Mittwoch, 19. Januar 2011

Weiter träumen

Manchmal gehe ich in der Mittagspause in das kleine Cafe um die Ecke. Eigentlich nicht so sehr um etwas zu essen, sondern, weil ich weiß, dass sie das ist. Jeden Tag um die gleiche Zeit sitzt sie am gleichen Tisch, abseits von den anderen Menschen. Vor sich ein Essen und einen Kaffee. Auf dem Stuhl neben ihr liegt der vom Vergehen der Zeit abgenutzte Beutel aus gewobenem Teppich. Er ist alt wie sie. Irgendwann hat sie mir erzählt sie sei achtzig Jahre alt. Man sieht es in ihrem Gesicht, das aussieht wie das faltige Antlitz einer Porzellanpuppe mit traurigen wässrigblauen Augen.

Sie rührt mich an, berührt etwas in mir, was ich nicht benennen kann. Vielleicht ist es diese Traurigkeit, geboren aus einem schweren Verlust, die sich zu der meinen legt, oder es ist die Vorstellung ihr zu gleichen irgendwann, dann.

Ich weiß, dass sie sich freut, wenn ich komme. Nicht, dass sie es sagt, sie sagt wenig, was in irgendeiner Weise mit Gefühlen zu tun hat. Aber ich sehe ihre Freude am kurzen Aufblitzen eines Lächelns, das ihre herunterhängenden Mundwinkel für einen Augenblick nach oben zieht. Dann ist sie schön für diesen kleinen Augenblick und das gefällt mir.

Einmal als ich sie traf, sie sah mich nicht gleich beim Hereinkommen, war es schon da, dieses Lächeln. Über einen Brief gebeugt schien es den Augenblick zu überstehen. Als sie mich bemerkte, begrüßte sie mich und faltete mit ihren schmalen, von Altersflecken und feinen Rissen überzogenen Händen den Brief zusammen um ihn in ihrem Beutel verschwinden zu lassen. Für einem Moment dachte ich, sie gestört zu haben und sprach das Gefühl aus. Nein, ich habe sie nicht gestört sagte sie, den Blick nicht auf mich, sondern auf den im Beutel versunkenen Brief gerichtet.

Eine ganze Weile sah sie mich schweigend lächelnd an. Dann schüttelte sie den Kopf mit den weißen Locken und es brach aus ihr heraus: "Sie werden mich für eine verrückte alte Frau halten, aber ich habe einen Liebesbrief geschrieben." Ich hätte sie aus lauter Rührung am Liebsten in den Arm genommen, tat es aber nicht und fragte sie: "An wen?" " Ich bin verliebt", antwortete sie. "Er weiß es aber nicht. Ich habe ihm diesen Brief geschrieben. Und wissen sie was, ich werde ihn nicht abschicken."

"Aber warum denn nicht?" fragte ich sie. "Ach, Mädchen", ihr Gesicht zeigte plötzlich wieder diese tiefe Traurigkeit: "Wenn ich den Brief abschicke wird alles anders." "Was wird anders?", fragte ich sie. "Nun, er könnte es lächerlich finden, oder er könnte mir zurückschreiben."" Das wäre doch schön, wenn er ihre Gefühle erwidert", sagte ich. "Sehen sie, das weiß ich eben nicht und darum ist es viel besser, so wie es jetzt ist. Ich kann weiter träumen. Und das ist schön."