Dienstag, 17. Mai 2011

Kurze Geschichte von Schwänen


Anna sah den beiden Schwänen zu. In sich versunken glitten sie über die glatte Oberfläche des Flusses. Das Wasser dampfte. Es war ungewöhnlich warm für November.

Es stimmte nichts mehr. Nicht einmal der Winter war mehr das, was er sein sollte. Sie blickte sich um. Am Wochenende waren mehr Spaziergänger unterwegs als an den anderen Tagen. Seit etwa drei Wochen fuhr sie jeden Vormittag zur Alten Donau. Am Arbeiterstrandbad stieg sie aus der U2 und lief zum Ufer der Alten Donau. Seit drei Jahren war sie jetzt arbeitslos. Am Anfang hatte sie noch versucht eine neue Stelle zu finden. Sie war Redakteurin bei der Kronenzeitung gewesen. Die Redaktion hatte ihr gekündigt und eine Jüngere eingestellt. Ich bin zu alt, hatte sie gedacht, mit fünfundvierzig zu alt. Der Redaktionsleiter hatte die Kündigung nicht begründet und sie hatte nicht nach dem Warum gefragt. Ihr Vertrag war ausgelaufen. Es gab keinen Grund nachzufragen.

Zu alt, das hatte sie in den vergangenen Jahren oft gehört. Zu alt für dies, zu alt für das, oder überqualifiziert, das war die Variante, die dafür herhielt, dass sie nicht wieder Fuß fassen konnte in der normalen Welt derer die arbeiten durften.

Was war normal? Sie hatte es einmal gewusst, zumindest hatte sie geglaubt es zu wissen. Sie erinnerte sich. Erinnern in ihrer Situation war nicht gut. Jeder Blick zurück in die Vergangenheit schmerzte. Es lassen konnte sie trotzdem nicht. Es war wie ein Zwang. Sie hatte versucht sich Abzulenken, dem Moment, wo sie weiter und weiter in die Rückschau glitt etwas dagegen zu setzen, ein Bild vom Jetzt, eine aktuelle Momentaufnahme, die alte Momente in die Schranken weißt, sie gar nicht erst durch lässt in die Gegenwart, der Anblick eines Gebäudes, einer Straße, eines Menschen, der ihr über den Weg lief, eine Tasse Kaffee auf die sie sich konzentrierte.

Es hatte funktioniert, ein paar Mal, aber die Momentaufnahmen verblassten schnell, die gespeicherten Bilder in ihrem Kopf waren bunter.
Schwäne sind sich ein Leben lang treu. Wenn einer stirbt bleibt der andere allein bis er ebenfalls stirbt. Das hatte sie ein Mal gelesen. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Es war ein romantisches Märchen über die ewige Treue, das man Leuten auftischen konnte, die zuversichtlich in die Welt blicken.

Zuversicht war mehr als Hoffnung. Zuversichtlich sind die, die stark sind, die im Leben stehen, erfolgreich und selbstsicher. Hoffnung ist für die, die eigentlich schon an nichts mehr glauben, aber noch glauben wollen, bevor sie endgültig aufgeben.

Es gab Tage, da war sie kurz davor aufzugeben. Einfach loslassen, das Wenige, was sie noch hatte. Die Wohnung lag ihr am Herzen. Der Vermieter hatte ihr mit der Räumungsklage gedroht, nachdem sie zwei Monate die Miete nicht hatte zahlen können. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit eine neue zu finden. Ohne Einkommensnachweis war das unmöglich. Sie arbeite freiberuflich, lebte von Auftrag zu Auftrag. Die Auftragslage war schlecht. Da gab einem keiner eine Wohnung, nicht einmal ein Zimmer. Die Vermieter, denen sie sich vorgestellt hatte, hatten Angst. Wer keine Arbeit hat ist nicht solvent. Insolvenz ist das Schreckgespenst für die, die etwas besitzen.

Vor Gespenstern fürchten sich die Menschen. Sie sind eine Macht aus einer anderen Welt, und da sollen sie bleiben, gefälligst. Sie könnten einen ja mit sich runter ziehen. Wer tut sich das an?

Anna nahm das alte Brot, das sie mitgebracht hatte in ihre Handfläche, schloss die Finger und drückte zu. Es leistete Widerstand, ließ sich nicht zerbröseln. Sie öffnete die zur Faust geballte Hand, ließ das Brot auf die Erde fallen und zertrat es mit dem Absatz ihres Stiefels. Es knirschte. Sie spürte wie die Wut nach oben kroch. Im Hals blieb sie stecken. Die Wut machte es nicht besser. Immerhin war sie besser als Verzweiflung. Die lähmt.

Es spielte keine Rolle, ob sie dieses oder jenes Gefühl zuließ, ihr Leben blieb was es war – eine Einbahnstrasse, die gegen die Wand führte. Da sie am Ende in jedem Fall aufschlagen würde war es egal. Wie sie sich wohl anfühlte, die Wand?

Wann und wie sie aufschlagen würde überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Das Schlimmste, was war das für sie? Manchmal verbrachte sie ganze Abende mit dieser Frage. Mal fand sie die eine, mal die andere Antwort. Keine davon nahm ihr die Angst vor dem Ungewissen. Wie viel konnte sie beeinflussen? Was kann man beeinflussen ohne Geld, ohne Sicherheiten, ohne etwas, das über das hinaus geht, was man am Leib trägt, was in den Schränken hängt und ein Wohnungsmobiliar ausmacht, die Dinge, die sich im Laufe eines Lebens angesammelt haben? Sie könnte die Sachen verkaufen. Es wären ein paar Euro, schnell wieder ausgegeben. Sie konnte sich nur schwer trennen von den Dingen, die sie ein Leben lang begleitet hatten. Sie hing daran, sie waren ihr Heimatgefühl. Anna war immer da zu Hause gewesen, wo ihre Sachen waren.

Von Kindheit an war ihr Heimat als ein Gebrochenes, Undurchdachtes, erschienen. Im Schatten der Wand, die auf sie wartete, kam etwas ans Licht für das sie nur ein Wort fand: aufgehoben. Sie fühlte sich aufgehoben in ihrer Wohnung, zwischen ihren Sachen. Wo die Welt als Unzuhause erscheint wird es unheimlich. Sie kannte das Gefühl. Diesen Zustand hatte sie zu überwinden gesucht, weil sie wie alle ohne Angst leben wollte, unfremd und zuversichtlich. Die Wohnung war eine Parallelwelt, in deren Zeichensystem sie zuhause war.

Als Kind war sie mit den Eltern oft umgezogen. Sie hatten eine Nomadenexistenz geführt. Immer war sie eine Fremde gewesen, eine Fremde unter Fremden, kaum Zeit sich vertraut zu machen, Entsprechungen zu finden. Freunde hatte sie nie gehabt. Es war so gewesen und es war so geblieben.

Dass sie allein war, daran hatte sie sich gewöhnt. Sie war es nicht immer gewesen, einmal hatte sie mit einen Mann zusammen gelebt. Er war gegangen als sie ihren Job verloren hatte. Wenige Monate danach war er ausgezogen. Sie hatte ihn nicht gebeten zu bleiben. Sie hatte nicht geweint, ihm eine Szene gemacht. Sie wusste, dass die Bitte "bleib" nichts half, wenn ein Mensch gehen will.

Es war auch besser so, er war keiner der in schlechten Zeiten den anderen halten konnte, er war ein Bonvivant, der ruhelos von einer zu anderen zog. Sie war nur eine Station auf seinem Weg gewesen. Das hatte sie von Anfang an gewusst.

Sie bückte sich, hob die Brotkrümel auf und warf sie den Schwänen zu. Sie hatte nicht vor aufzugeben. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie dieses Mal nicht gefragt wurde. Die Schwäne ignorierten das Brot und schwammen unbeeindruckt weiter. Ein paar Enten stürzten sich darauf. Sie mochte Enten nicht, weder Enten noch Möven mochte sie, weil sie laut waren und gierig. Sie hatte gewusst, dass die Schwäne ihr Brot verweigern würden, sie hatte oft genug versucht sie zu füttern. Aber sie versuchte es wieder und wieder, wie eine Bestätigung dafür, dass Wille und Beharrlichkeit zum Ziel führen. Hätten sie das Brot genommen, es wäre ihr wie ein Zeichen erschienen. Ein Hinweis des Universums, das sie es schaffen würde, irgendwie, mit Beharrlichkeit und Willenskraft.

Sie hatte sich gefragt ob man einen Deal mit Gott machen konnte, aber dann hatte sie sich selbst die Antwort gegeben und sich gesagt, dass Gott sich nicht für eine achtundvierzigjährige verzweifelte Frau interessiert. Gott hatte wichtigeres zu tun. Im Radio hatte ein Sänger gesungen: God is a DJ. Es klang blasphemisch, aber irgendwie hatte ihr der Gedanke gefallen. Gott, der im Himmel Platten auflegt und alle tanzen dazu. Das hatte etwas Leichtes, etwas Spielerisches, nahm der Sache Leben die Ernsthaftigkeit.

Anna war eine ernster Mensch. Der Mann hatte ihr das manchmal vorgeworfen, wenn er selbst ernst gewesen war. Er war es die meiste Zeit gewesen. Aber seine Ernsthaftigkeit war eine andere gewesen als ihre. Dahinter hauste eine wütende Unzufriedenheit, weil er seinen Traum nicht hatte leben können. Er war Maler und verkaufte nichts. Er war von Tag zu Tag unzufriedener geworden und ernster. Anna war ernst, weil sie das Leben an sich für eine ernste Angelegenheit hielt aber sie war nicht unglücklich deswegen, sie liebte das Leben auf ihre ernste Weise.

Sie sog den Duft der feuchten Herbstluft in sich ein. Sie roch nach Vergänglichkeit. Einerseits mochte sie den leicht modrigen Geruch verwesender Blätter auf dem Gras am Ufer, andererseits, wenn sie sich ihm zu lange und zu intensiv hingab, wurde ihr übel. Sie hasste die Vergänglichkeit und alles was damit zu tun hatte. Wie konnte man Freude, Liebe und Glück empfinden im Gewahrsein, dass all das vergehen würde von eimem Moment zum anderen. Was waren diese großen Empfindungen wert angesichts ihrer Endlichkeit. Musste man nicht schon trauern wenn man liebte, über den kommenden Verlust.

War man nicht ein Narr, der sich selbst etwas vorgaukelte wenn man sich glücklich fühlte, wo das Glück ein Momentanes war, fernab jedes Anspruchs auf Beständigkeit, war die Freude nicht schon am Verklingen, noch während man sie empfand. Diese Ambivalenz machte ihr zu schaffen.

In der Erinnerung hatte sie die schönen Dinge behalten. Vielleicht war die Erinnerung das einzige Mittel gegen die Vergänglichkeit. Vielleicht beharrte sie deshalb so auf Annas Aufmerksamkeit. Die Erinnerung konnte man ihr nicht nehmen. Die Erinnerung gehörte ihr. Sie war unvergänglich, zu jeder Zeit abrufbar und damit dauertüchtig. In der Erinnerung gab es keine Wand. Dort würde es sie niemals geben.

Sie bückte sich, hob die letzten Brotstücke auf und warf sie ins Wasser. Sie wollte sich gerade umdrehen und auf den Heimweg machen, als sie bemerkte, wie eine Schwan auf sie zuschwamm. Für einen kurzen Moment sah er sie an, dann senkte er den schlanken weißen Hals hinunter zur Wasseroberfläche, öffnete den roten Schnabel und fischte etwas heraus, das aussah wie ein Stück aufgeweichtes Brot.