Sonntag, 15. Mai 2011

verzeihen ...

verzeihen, wie geht das? ich frage mich das schon lange und immer wieder. ich selbst bin jemand, der schwer verzeihen kann. das beginnt da, wo ich mir selbst nicht verzeihe für all die dinge, die ich anderen angetan habe oder mir selbst. nicht, dass ich es nicht versucht habe. ich habe es versucht, immer wieder und ich versuche es noch immer. geholfen hat es nichts. bis ich begriffen habe, warum diese versuche untaugliche versuche waren. ich habe begriffen, dass vergebung nicht zu erzwingen ist, auch wenn man vergeben will oder vorgibt, man tut es oder habe es getan.

verzeihen wollen nutzt definitiv nichts.

wenn ich etwas will, muss ich verstehen, was ich will. bei diesem gedanken wird mir bewusst, dass ich gar nicht genau weiß, was verzeihen ist. wie also soll ich etwas tun, wenn ich nicht weiß, was ich da tun will?

was ist verzeihen?
was bedeutet verzeihen? und was ist, wenn ich in den zustand des nicht verzeihen könnens gelange? wodurch entsteht er, was war bevor das verzeihen als thema im raum steht, im raum der seele, denn da ist der platz, wo man es findet. der kopf kann denken: ich verzeihe, aber wenn die seele nicht bereit ist, hilft das gedachte nichts.

vor dem verzeihen gibt es etwas, was wir einem anderen oder uns selbst übel nehmen.
wir nehmen ein übel an. man beachte den wortklang: ein "übel annehmen". ein übel, das aus uns kommt, ein übel, das wir einem anderen getan haben oder ein übel, das ein anderer uns angetan hat. das übel sind verletzungen, ist etwas, das unsere grenzen verletzt durch übergriffiges verhalten oder handeln, es ist eine zurückweisung oder eine echte gemeinheit. etwas übel nehmen bedeutet etwas übles übernehmen, das von einem anderen kommt. dieses üble macht etwas mit uns, etwas, was uns weh tut. jemanden übles verzeihen ist schwer. denn das bedeutet: wir dürfen dem anderen das üble nicht weiter übel nehmen. aber wahr ist: es gab ein übel und dieses übel ist nicht wegzudenken und schon gar nicht weg zu fühlen.

wir fühlen uns verletzt, wir denken es nicht.
was wir fühlen ist wahr. und was wir fühlen hat seine berechtigung, was wir fühlen darf sein. erst gedanken verändern gefühle. manche gefühle aber lassen sich durch gedanken nicht verändern. unser gefühl mag den anderen nicht interessieren. er fühlt nicht, was wir fühlen. er kann es nur zu verstehen versuchen und das ist nicht das gleiche. der andere, der uns verletzt hat, hat es in den meisten fällen nicht gewollt. auch nur dieser andere, der uns nicht mit absicht verletzt hat, wird uns um verzeihung bitten, die absichtsvolle üble tat will kein verzeihen.

angenommen, da steht ein mensch vor uns und bittet um vergebung. aber wir können nicht vergeben, weil wir uns tief verletzt fühlen. wir könnten um des lieben frieden willens sagen: gut, vergessen wir es. aber das sind kopfgedanken, und ist es damit wirklich gut? vergessen heißt noch lange nicht, dass wir verzeihen, wenn die wahrheit ist: ich kann nicht verzeihen, jetzt nicht, später vielleicht, irgendwann oder niemals. auch das ist möglich.

in allen spirituellen büchern, bei der bibel angefangen, gilt das verzeihen als großmut, als eine menschliche tugend. das hört sich groß an, so groß, dass es zu groß ist um es einfach zu tun.

ein verletzter mensch ist erst einmal alles andere als groß, gerade dann nicht, wenn er wirklich im tiefsten inneren getroffen wurde.
ein verletzter mensch fühlt sich klein, er fühlt sich gedemütigt und ohnmächtig. er muss zunächst mit sich selbst klarkommen und mit dem, was die verletzung mit ihm macht. sie demontiert im schlimmsten fall sein selbstkonzept. er wird innere gespräche führen, um das verletzende ereignis zu verarbeiten und zu bewältigen. wie lange diese bewältigung dauert hängt von jedem einzelnen ab, von seiner seelischen und psychischen struktur, seiner resilienz, seiner vulnerabilität, seinen biografischen erfahrungen, seinen glaubensmustern, seiner fähigkeit dem leben und den mitmenschen zu vertrauen und von seinen verarbeitungstrategien und ressourcen.

jeder mensch ist anders und jeder mensch verarbeitet die dinge auf seine weise.
keiner ist dem anderen gleich und nichts ist zu verallgemeinern. etwas anderes zu glauben ist ein phantasma, das an der realität des lebens zerbricht. so ist auch die fähigkeit des verzeihenkönnens individuell verschieden. und doch es gibt eine gemeinsamkeit bei aller verschiedenheit: ein verletzter mensch braucht den rückzug und er braucht zeit um seine wunden zu lecken wie ein verletztes tier, das sich in seine höhle zurückzieht. tiere haben diesen heilsamen instinkt, der uns menschen mehr und mehr verloren gegangen ist. ein verletzter mensch braucht seine höhle um sich mit der verletzung auseinanderzusetzen, um zu sehen, wie tief sie ihn erschüttert hat, um zu begreifen, was er daraus lernen kann, um herauszufinden, ob er die verletzung gebraucht hat um etwas über sich selbst oder den, der ihn verletzt hat zu erkennen, was er bisher nicht "gesehen" hat. derjenige, der um verzeihung bittet, vorausgesetzt er meint es ernst, wird ihm diese zeit geben. rückzug beinhaltet auch distanz einnehmen. distanz zu dem, was geschehen ist und distanz zu dem, der ihn verletzt hat.

ohne die möglichkeit des distanzeinnehmens rumort die verletzung weiter. 
sie quält nicht nur die eigene seele, sondern auch die beziehung zu dem, der uns verletzt hat. da ist nähe kontraproduktiv, denn der verletzte ist nicht nur gedemütigt, er ist auch, nach dem ersten schmerz, wütend. wütende menschen können erst einmal nichts fühlen, außer eben wut. im worst case wachsen aus dieser wut heraus sogar rachegedanken. nachvollziehbar, wenn auch ungut, denn rache schaufelt immer zwei gräber. warum? weil sie  uns an den täter bindet, der uns zwar zum opfer gemacht hat, aber durch die rache wiederrum auch zum täter. ein übler kreislauf und in hohem maße zerstörerisch. 

verzeihen braucht also zeit und distanz. und dann?
dann zeigt sich irgendwann ob man aus tiefstem herzen verzeihen kann. der, der verletzt hat, kommt in diesem prozess zunächst nicht vor. 

man kann einem anderen auch innerlich verzeihen, aber - auch wenn man dem anderen  innerlich verziehen hat bedeutet das nicht, dass man die nähe zu ihm wieder will. das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
auch wenn wir einem anderen verzeihen, ist es möglich, dass wir ihm nicht mehr vertrauen können, das vertrauen darauf, dass so etwas nicht mehr geschieht. und das ist ebenso schwer wie das verzeihen, denn da bleibt ein riss, da bleibt eine narbe, da bleibt ein bitterer nachgeschmack und da ist die angst - wer uns einmal tief verletzt, kann es immer wieder tun. die erfahrung lehrt - dem ist meist auch so, denn bevor die eine verletzung kommt, die wir nicht mehr verzeihen können, waren da zuvor viele andere kleine oder größere verletzungen, die wir zugelassen haben.

verzeihen ist also auch ein neuanfang mit dem anderen auf der basis von vertrauen.

ein langer prozess und sinnvoll für unseren inneren frieden. nicht verzeihen können, bedeutet dem "übeltäter", dem übel, verbunden zu bleiben, es bedeutet in der rolle des opfers stecken zu bleiben und das bedeutet, dem "täter" weiter macht über uns zu geben. es bedeutet ohnmacht und wo ohnmacht ist, ist auch immer wut. und die schadet immer vor allem uns selbst, sagt der verstand ... und das herz weint ...

und so dreht sich die spirale und dreht sich und dreht sich ... und so verletzen sich menschen und verletzen sich und verletzen sich ...






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