Montag, 31. Oktober 2011

Die Elektrische

mike saß im hinterzimmer seiner stammkneipe. da saß er immer, hinten, wo die anderen karten spielten, wo es leiser war als im vorderen raum, wo ständig die musikbox dröhnte. meistens spielten irgendwelche idioten die alten hits von udo lindenberg. die konnte er nicht ausstehen, bis auf den tod nicht, aber eigentlich konnte er udo nicht ausstehen. vielleicht weil der das gleiche problem hatte wie mike, aber weniger probleme durch das problem. der udo soff und verdiente noch geld dabei. scheiss egal, mit und ohne die sauferei, mike für seinen teil, hatte es verkackt.

gelangweilt sah den anderen beim spiel zu. er zog an der elektrozigarette, die er sich am ersten gekauft hatte, nachdem die hartz IV kohle ausnahmsweise mal pünktlich auf dem konto gewesen war. er solle sich gefälligst das rauchen abgewöhnen, hatte der typ vom amt gesagt, als er vorschuss wollte, letztens, als er am zwanzigsten keinen cent mehr in der tasche hatte und die zehn euro beim arzt fürs neue quartal zahlen sollte und nicht behandelt wurde, weil er sie nicht zahlen konnte. der zahn tat immer noch weh, der musste raus. na ja, jetzt hatte er wieder geld und der zahn konnte endlich raus. der typ vom amt war sowieso ein arschloch, den hätte er gar nicht fragen sollen, er hatte eh gewusst, dass der nix machen wollte, ob er gekonnt hätte oder nicht.

scheiss drauf, aber in einer sache hatte der typ recht, die qualmerei kostete geld, und geld hatte mike nun mal nicht. schon lange nicht mehr. es kratzte ihn im allgemeinen nicht sonderlich, erstens gewöhnte man sich an alles und zweitens brauchte er nicht viel. er tat ja sowieso nichts ausser rumsitzen zuhause und in der kneipe, ab fünf, wenn ihm die decke seiner einzimmerbude auf den kopf fiel und er raus musste. er saß dann im hinterzimmer, bis nach mitternacht, sah den anderen beim kartenspielen zu und trank gemütlich seine zwei bierchen und am schluss den korn zum besser einschlafen.

mike saugte an seiner elektrozigarette und blies den dampf vor sich her, der genauso echt aussah wie der qualm einer richtigen zigarette, aber anders schmeckte. stinken tat das ding nicht, aber die saugerei war irgendwie unbefriedigend, weil er ziehen konnte so oft er wollte, solange bis der akku leer war und das dauerte. das ding nahm kein ende wie eine normale kippe und im aschenbecher ausdrücken konnte man es auch nicht. das war wie autofahren mit angezogener handbremse.


autofahren mit angezogener handbremse, das hatte er als kind machen dürfen bei seinem alten, in dem vw käfer, der ewig im hof rumstand, weil nie geld für benzin im haus war. sein alter war an sonntagen manchmal mit ihm nach unten gegangen und hatte ihn auf den schoß genommen, ihn das lenkrad greifen lassen. mike hatte brumm brumm gelallt und sein alter hatte gelacht, was selten genug vorkam. scheiss drauf, eigentlich war nie kohle in seinem leben gewesen. er dachte wieder an udo, der mit seinem lallen, das sich anhörte als habe er mehr als zwei bierchen intus, die kohle nur so scheffelte.

verkackt, schon bei der geburt verkackt, zielsicher die falschen erzeuger ausgesucht. seine alte hatte sich zwar mühe gegeben, ihn nach der putzerei in der klinik, wo sie schichtdienst schob und oft erst spät in der nacht heim kam, trotzdem in ihr bett kriechen lassen wenn er schlecht geträumt hatte. sie hatte ihm was vorgesungen bis er wieder pennen konnte. die war schon in ordnung gewesen, seine alte. alt war sie nicht geworden, zu viel geschuftet in ihrem kurzen leben, da wird man nicht alt bei, der krebs hatte sie mit fünfzig dahingerafft. sein alter hatte es an der leber, saß seit dem tod seiner frau nur noch zuhause rum, glotzte rund um die uhr fernsehen und trank bier. wie mike eben. das musste er von seinem alten haben, der apfel fällt nicht weit vom stamm, davon war mike überzeugt, das leben hatte ihn überzeugt und das leben musste recht haben, schließlich war es ja seins.

er rief leni an den tisch und bestellte den korn. es war fünf vor zwölf. spät genug und eigentlich zu spät um noch irgendwas zu verhexen, ob jetzt oder im leben. nicht, dass er das nicht versucht hatte, er hatte es versucht, aber es hatte nicht funktioniert mit dem versuchen. er hatte depressionen und war nicht belastbar. egal wo er einen job gemacht hatte, nach einiger zeit waren die depris da und er tot, innen tot. tote gehen nicht malochen, weder auf den bau noch sonstwohin. der bau war sowieso nie seins gewesen, musik hatte er machen wollen, aber da war nie geld um ein instrument zu lernen.

eigentlich war es in ordnung wie es war. er hatte seine ruhe und seine depris konnten jetzt kommen wann sie wollten, die störten keinen mehr seit er stütze bekam. hat alles vor- und nachteile im leben, hatte seine alte gesagt. recht hatte sie und vor allem endlich ihre ruhe. mike saugte an der elektrozigarette. leni kam mit dem korn. "hey alter, mach mal die kippe aus, mensch, is rauchverbot hier, weißte doch."

mike machte einen tiefen zug, dass es nur so qualmte. "hey, checkste das nich, mach aus, sofort!", fuhr leni ihn an," aber dalli!"

er spürte wie das lachen aus seinem bauch kroch, über den magen nach oben in die speiseröhre bis in die kehle, über die zunge in den mund und dann platzte es aus ihm heraus das lachen und leni war ganz still und sah ihn an, als wäre er der teufel persönlich und als das lachen endlich aufhörte hörte er sich sagen: "mensch du dumme nuss, das is ne elekrische und weißte was, ich rauche die, weil ich es will und du kannst da gar nix machen, ob du willst oder nicht!

Freitag, 28. Oktober 2011

draufschlagen

du spast, du schwule sau. er schlug ihm ins gesicht. ein mal, zwei mal, drei mal, zählte nicht mehr, schlug zu, mitten ins gesicht. die knöchel seiner hände schmerzten. das gesicht schrie: hör auf! immer wieder: bitte, hör auf! er fühlte nichts, nur diese leere, wo man was hätte fühlen sollen.

der therapeut hatte ihm das gesagt. man soll was fühlen und ihn verständnislos angeglotzt, als er geantwortet hatte, er wisse nicht was das ist, fühlen, er könne sich das fühlen nicht mal denken. der therapeut hatte versucht ihn zu provozieren, hatte ihm von der mutter erzählt, die gesoffen hatte, den ganzen tag auf dem sofa gelegen hatte wie eine ausgeleierte stoffpuppe, nur dass sie gestunken hatte wie ein stoffpuppe nicht stank. der therapeut hatte versucht ihn mit worten zum fühlen zu bringen, die er erinnerung nannte.

der therapeut langweilte ihn. alles langweilte ihn. irgendwann war er nicht mehr in die therapiestunde gegangen. wenn er in seinem zimmer auf dem bett lag und die fünfzehn quadratmeter von wand zu wand mit den augen abmaß, sich den arsch abfror, weil die heizung nicht funktionierte, hatte er es versucht mit dem fühlen. er hatte sich an fühlworten entlang gehangelt wie liebe oder hass, das sind doch fühlworte, gedacht, aber nichts gefühlt.

meistens schlief er dabei ein. am morgen fuhr er die drei stationen mit der u-bahn in den supermarkt. acht stunden kisten auspacken, altes aus regalen räumen, neues einräumen. immer schön auf die haltbarkeitsdaten achten, hatte der marktleiter gesagt. von was, hatte er gedacht und dass das mit der haltbarkeit von lebensmitteln genauso eine verlogene sache war wie das mit der haltbarkeit der versprechen von menschen, die ihm gesagt hatten, dass sie zu ihm halten würden. irgendwann waren sie weg. er hielt sich an sich selbst.

acht stunden schlepperei, dazwischen eine stunde mittagspause mit zigarette, cola und sandwich auf der mauer im hinterhof des supermarktes. rauchen, kauen und runtergeschlucktes, das den bauch voll machte. wieder ein und ausräumen bis es abend war und ihm die arme und der rücken weh taten, ins zimmer und ins bett. ab und zu ins kino einen actionfilm reinziehen oder in die kneipe um die ecke ein bier trinken. die tage glichen sich wie die zigarretten in der schachtel, die er täglich leer rauchte.

und jetzt war da dieses arschloch, dass ihn angemacht hatte, als er dem mädchen mit dem gesicht, das wie ein herz aussah, den drink spendiert hatte, weil ihm das herzgesicht gefallen hatte. das arschloch hatte sich vor ihm aufgebaut, sie sei seine braut und er solle seine dreckigen finger von ihr lassen.

scheisse, hatte er gedacht und dass niemand niemandes seine war und dann hatte er angefangen draufzuschlagen. der schmerz tat gut. der schmerz in seinen knöcheln und der schmerz des anderen. er hatte schon lange kein so gutes gefühl mehr gehabt. es fühlte sich gut an, so gut, dass er niemals mehr damit aufhören wollte.

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Schmetterlinge im Bauch

irgendwie war sie unheimlich, diese stille. sie war ganz plötzlich gekommen, in dem moment als sie den telefonhörer aufgelegt hatte. unmittelbar im selben moment. dabei hörte sie alles. sie hörte den zug, der wie immer zur gleichen zeit über die gleise ratterte in der nacht. sie wusste dann, dass es halb zwölf war, wobei es völlig nutzlos war es zu wissen. mitten in der nacht hatte die zeit eine andere größe. sie musste auch nicht aufstehen am anderen morgen, niemals. nicht mehr aufstehen, dachte sie in die unheimliche stille hinein, die mit dem aussen nichts zu tun hatte, denn sie hatte ja den zug gehört, wie jede nacht.

er hatte es gesagt. sie hatte es gewusst. schon die ganze zeit hatte sie es gewusst und immer auf den moment gewartet, wann er es sagen würde und trotzdem gehofft, dass er es nicht sagen würde. diese verdammte hoffnung, dachte sie und dass sie das wort hasste, weil es nach ohmacht klang.

sie fühlte nichts, ausser der unheimlichen stille und dann die angst, die diese stille mit sich brachte, langsam. sie kannte die angst, kannte sie gut, so gut wie eine alte freundin, die man ein leben lang mit sich rum schleppt wie einen klotz am bein, weil man sie eigentlich nicht mehr leiden kann, weil man nichts mehr von ihr will und nicht nein sagen kann, weil sie noch etwas von einem will. sie saß jetzt neben ihr im bett, die angst und sah sie an mit ihrer scheinheiligen fratze. am liebsten hätte sie ihr rein geschlagen mitten in die scheinheiligkeit, aber sie hatte ihre wut immer nach innen gerichtet. manchmal hatte sie sich die arme aufgeritzt mit einer der rasierklingen, die sie im drogeriemarkt besorgt hatte und sich dabei vorgestellt hatte, sie würde sie für ihren mann kaufen. für den moment hatte sie das dann geglaubt und sich gefreut die klingen neben den rasierpinsel zu legen im regal unter dem spiegel im bad. aber er war tot. er war früher tot als sie. es hatte es nicht leichter gemacht, das alt werden.

sie schlurfte ins badezimmer. zentnerschwer lag die stille auf ihr, in ihr. sie dreht den wasserhahn auf und trank direkt aus dem hahn. sie spürte wie das eiskalte wasser über ihr kinn lief wie ein schwall eiskalter tränen, der sich verlaufen hatte aus den augen nach unten übers kinn, das immer noch weh tat vom aufschlag auf die fließen und blau war. das war ihr in letzter zeit oft passiert, dass sie aufgeschlagen war auf dem boden im bad oder sonstwo. der arzt hatte gesagt, sie solle die gehhilfe dann eben auch zuhause benutzen, damit sei sie sicherer unterwegs.sicherer unterwegs. sie grinste. nichts war sicher, dass der arzt das nicht wusste, und dann dachte sie, dass er es sicher wusste und es nicht sagte, weil er ihr mut machen wollte.

sie drehte den hahn zu, nahm das graue gästehandtuch aus der kleinen box auf dem regal unter dem spiegel und wischte vorsichtig das kalte nass ab.
im spiegel sah sie ihre augen. dass sie schön seien hatte er gesagt, der mann, den sie wochenlang in der kirche gesehen hatte und den sie angelächet hatte. gleichzeitig hatte sie über sich selbst lächeln müssen, die dumme alte kuh, die mit siebenundachtzig noch schmetterlinge im bauch gefühlt hatte, wenn sie den mann sah in der kirche. er hatte zurückgelächelt und dann waren sie an einem nachmittag einen kaffee trinken gegangen, dann immer wieder und sie hatte sich schön gemacht und ihre bunten kleider ausgeführt für den mann und ihm hatten sie gefallen.

als sie ihn eingeladen hatte eines abends, hatte sie pizza im supermarkt geholt, sie aufgebacken, den rotwein auf den tisch mit der wachstischdecke gestellt und zwei papierservietten neben die teller gelegt. sie hatten gegessen und getrunken und er hatte ihr von seiner frau erzählt, die im heim lag mit demenz. sie hatten sich angelächelt wie in der kirche. die schmetterlinge in ihrem bauch schlugen zart mit den flügeln und sie hatte ihren toten mann für diesen einen abend vergessen.

ihr blick klebte am spiegel. ihre augen waren grau und klein. sie waren geschrumpft wie alles an ihr und matt wie alles an ihr und unendlich müde wie alles in ihr, jetzt in dieser unheimlichen stille.

müde lächelte sie dem spiegel zu. sie hatte es doch gewusst, dass der anruf kommen würde. sie drückte auf den lichtschalter, schlurfte ins bett und zog sich die decke über den kopf. jetzt war es so still, dass es ihr den atem nahm. er würde nicht wieder kommen, hatte er gesagt und obwohl sie es gewusst hatte half es nichts, weil etwas wissen niemals etwas half. plötzlich hörte sie es, fühlte sie es, sie schrien ganz laut, die schmetterlinge in ihrem bauch, so laut, dass es die stille zeriss.

Dienstag, 25. Oktober 2011

lieben ohne die vergangenheit des anderen und des einen gibt es nicht

hab ich heute schon gebloggt? nein. mach ich aber jetzt, weil ich jemand noch eine antwort schuldig bin. eine antwort auf dieses statement nämlich:

lieben
ohne die vergangenheit des anderen
und des einen
gibt es nicht
...

das hab ich gesagt, nein, ich habs gepostet in facebook. wie antworte ich jetzt am besten darauf? nun, ich kann eine nette kleine kurzgeschichte schreiben oder ich kann es irgendwie anders auseinanderdröseln, anders in form von einer form für die ich immer noch eine bezeichnung finden will, aber sie nicht finde. egal, was schert mich die form, ich bin blogger, da darf ich schreiben wie mir der schnabel gewachsen ist, sprich, wie es mir in die finger fließt, raus aus dem hirn direkt rein in das kleine feld wo "neuer post" drüber steht.

hm, vielleicht ist das ja die bezeichnung für die form - post. nicht zu verwechseln mit Post, obwohl die posts könnten quasi auch briefe sein, die man per Post absendet, so wie man das früher tat, als die leute sich noch briefe geschickt haben, anstatt zu posten. das dauerte länger, hatte aber den vorteil, dass man sich ziemlich genau überlegte was man schreiben will. der nachteil war allerdings, es dauerte mitunter so lang bis der beim empfänger ankam, dass der andere mitunter vergessen hatte worauf er endlich eine antwort bekam, oder schon längst mit den gedanken gar nicht mehr beim sender war, im worst case jenen verlassen hatte, weil das mit der kommunikation doch nicht so recht klappte.

na egal, ich wollte hier etwas beantworten.
mach ich jetzt mal, scheiss auf die form.
lieben
ohne die vergangenheit
des anderen und des einen
gibt es nicht
jetzt aber zu sache!

meine protagonisten sind anna und tom. anna muss oft herhalten bei mir, der name hat zwar etwas knappes aber doch auch etwas intensives, ich mag das. mit tom ist es das gleiche.

also anna und tom lernen sich kennen. am besten in freier wildbahn. naja, meinetwegen auch im internet, aber freie wildbahn ist mir lieber, ich finde das romantischer. ja, ich steh auf romantik, habe ich das schon mal erwähnt?

anna ist um die vierzig. tom ist um die vierzig. damit es nicht noch komplizierter wird haben die jetzt mal die gleiche zeitspur auf der sie sich grade bewegen, obwohl ich nichts gegen beziehungen habe wo der altersunterschied eklatant ist, die haben es in sich, heißt - meist sind die noch komplizierter als die, die in der gleichen zeitspur laufen, aber das ist ein anderes thema.

anna und tom treffen sich in einer kneipe. anna sitzt da und sinniert über ihr leben nach. sie ist single seit ihre große liebe sie vor zwei jahren verlassen hat, wegen einer anderen. dass die jünger war ist klar, ich bin schließlich beim klischee. ich arbeite ab und an gern mit klischees, weil die sich immer recht gut eignen um etwas zu erklären, ohne es noch komplizierter zu machen als es meistens ist.

tom sitzt beim vierten bierchen und sinniert über seine kaputte ehe nach, die er, aus welchen gründen auch immer, nicht verlassen kann. meistens werden die kinder vorgeschoben, aber meistens sind es nicht die kinder, sondern es ist die angst allein zu sein.

da sitzen sie nun, allein, jeder für sich und trinken, damit sie in nicht in ihrem elend ertrinken. manchmal geht das. ich weiß es. ist aber keine langzeitlösung sonst kommt zu dem einen elend noch eins und zwar der suff und der macht das gehirn und die leber matschig.

anna guckt tom an, weil er der einzige attraktive typ in der kneipe ist. tom guckt anna an, weil sie die einzige frau in der kneipe ist. und bäng! es macht was mit ihnen, das angucken.

tom, muttrunken von den bierchen nimmt sein glas, steht auf und bewegt sich in richtung anna. anna lächelt, weil sie innerhalb von zehn sekunden entschieden hat, ihn nicht abzuweisen, was sie sonst immer macht, wenn sich ihr einer nähert, aber heute ist ihr klarer als sonst, dass sie mit der abweisenden tour nie auf einen grünen zweig, sprich - einen mann, kommt.

die beiden verstehen sich wunderbar, die beiden gehen nach drei weiteren drinks zu ihr, weil zu ihm geht ja nicht. obwohl, das wär doch mal was, die neue mit nach hause bringen und sagen: schatz, ich hab keine lust mehr auf unsere kaputte ehe, darf ich dir meinen neuen versuch von liebe vorstellen?

gut, machen anna und tom nicht, wäre auch die harte nummer, aber es wäre ehrlich, finde ich. sie gehen natürlich zu anna und verbringen eine ekstatische nacht miteinander, was dazu führt, dass sie meinen es sei liebe.

und weil sie meinen es sei liebe, sehen sich anna und tom von da an öfter.
es flügelschlagen die schmetterlinge in ihren nicht mehr ganz schlanken bäuchen. die beiden genießen sich gegenseitig und das, was sie vom anderen noch nicht wissen.

der sex ist erfüllend wie schon lange nicht mehr und zum reden hat man ja vorher und hinterher zeit. sie plaudern über träume und zukunftsvisionen, die sehnsucht breitet sich aus und legt warme weiche schwingen der zuversicht über das frische liebesglück. ach ist das schön! kenn ich und finds immer wieder wunderbar. bis ... und jetzt kommts. ich muss hier ja schließlich erklären, wie ich das meine, mit dem, was ich meinte in meinem post.
lieben
ohne die vergangenheit
des anderen und des einen
gibt es nicht
das frische liebesglück verwandelt sich mit dem vergehen der zeit, wie sich alles mit dem vergehen der zeit verwandelt.

der sex ist immer noch gut, aber es wird mehr geredet. viel mehr. tom, ein konsequenter typ, chapeau!, hat inzwischen seine familie verlassen. anna denkt nur noch einmal täglich an ihre verlorene große liebe. der alltag hält einzug in die junge liebe. es wird geredet und geredet und die rede kommt irgendwann auf die vergangenheit.

davon haben beide eine menge. die mischt sich ein, die wird in bunt und in schwarz gemalt, die geht von klein anna und klein toms kinderzeit, von klein annas und klein toms mama und papa über die diversen geschwister, bis hin zu den diversen beziehungen von anna und tom über verlorene und gelebte träume über krisen und krisenbewältigung über gewinnen und verlieren über was man mag und was man nicht mag, bis hin zur erkenntnis warum alle beziehungen die vorher waren, inklusive annas großer liebe und toms ehe, nix geworden sind.

ja, und da ist sie dann die vergangenheit im jetzt der neuen liebe und zwar mittendrin.

und in so manchen fällen auch unüberhörbar...

mitten in der nacht bei anna und tom
toms handy klingelt. er nimmt ab: du, der kleine ist aus dem hochbett gefallen und hat eine platzwunde am kopf. bitte komm sofort her und pass auf seine schwester auf, ich muss jetzt mit ihm ins krankenhaus.

nachtrag:
so ist das mit der liebe und der vergangenheit des einen und des anderen. es gibt sie nicht ohne.
macht aber nix. oder doch?

FLYER

Montag, 24. Oktober 2011

der irrglaube von den spiegelungen

es gibt einen weit verbreiteten glauben, der besonders von den esoterikern und den spirituell erleuchteten unserer spezies gern verbreitet wird - der glaube, dass jeder mensch und besonders der jeweilige partner, nur der eigene spiegel sei, frei nach dem motto: "was ich in dir sehe, das bin auch ich!" und das soll ich dann gefälligst auch bitteschön liebend anehmen, denn das bin ja ich. und wenn ich es nicht annehme, liebe ich mich selbst nicht und den anderen auch nicht.

das würde, nähmen wir das als wahr, bedeuteten, dass wie immer gleiches anziehen und immer nur den oder das im anderen gespiegelt sehen, was oder wer wir selbst sind mit allen schatten inklusive. kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, denn jeder mensch ist anders und jeder ist einzigartig, auch wenn wir uns in unserer struktur ähneln, besonders was unsere grundbedürfnisse angeht. und ausserdem - immer in den spiegel gucken und nur wieder mich selbst sehen - wie langweilig ist das denn?

glaube ich also nicht, das mit dem spiegel des gegenübers, das mir nur mich selbst zeigt mitsamt allem, was ich an gutem und weniger gutem so in mir herumtrage.

ich glaube, dass besonders in engen beziehungen das spiegelthema ein anderes ist. ein weniger einfacheres. by the way - das einfache ist zwar immer das einfachste aber nicht immer das richtige und bestimmt nicht immer das wahre.

ich glaube nicht, dass das gegenüber dassselbe in sich trägt. ich glaube, dass das geheimnis der spiegelungen sich anders offenbart, nämlich so: der andere zeigt uns etwas was wir nicht leben, etwas, was wir nicht ins eigene leben investieren, was wir verdrängen, weil wir es uns nicht zu leben trauen oder uns nicht zutrauen zu sein.

so ist das mit dem spiegeln. und daher kommt es auch, dass wir genau die eigenschaften am anderen, die uns ärgern oder die wir insgeheim beneiden, oder sogar verachten oder, wenns ganz schlimm kommt, hassen, genau die sind, die wir bei uns selbst vernachlässigen.


manche suchen sich sogar unbewusst partner, die das unausgelebte dann für sie leben. als ergänzung sozusagen. tja, dass da die persönliche entwicklung auf der strecke bleibt brauche ich jetzt nicht zu sagen.

wenn der andere an meiner statt etwas lebt, dann lebt er meinen mangel aus, also das, was ich mir wünsche und nicht leben oder sein kann, warum auch immer. schön und gut - geteiltes leid ist halbes leid - glaub ich eh nicht.

nein, wenn der andere etwas für mich auslebt oder erledigt, führt das ganz und gar nicht dazu, dass ich glücklicher bin oder mich ganz fühle - übrigens der irrglaube schlechthin - keiner macht uns ganz - sondern dazu, dass ich den mangel immer weiter verdränge und mir nicht das hole was mir mangelt, und zwar vom leben durch mich selbst, durch mein tun und handeln, sprich - durch mein eigenes schöpfertum.


oh ja, er hatte recht der alte platon, gott hab ihn selig, als er sagte, wir menschen sind halbierte, die nach ganzheit streben. aber haben wir ihn recht verstanden?

nun platon hat behauptet, dass wir - dereinst kugelmenschen - nach der spaltung durch zeus immer die zweite hälfte suchen. und wenn wir nicht gestorben sind, suchen wir die noch heute.

tun wie auch, wir noch lebenden. und wo suchen wir die andere hälfte, wir, die wir einst ein kugelmensch waren? man beachte EIN kugelmensch! wir suchen die da draussen, nämlich beim, im und durch den anderen. anstatt da wo sie ist, nämlich in dem EINEN und der eine sind wir selbst. da ist was ganz zu machen, damit die kugel wieder rund ist.


insofern zeigt uns der spiegel, sprich der andere, nicht wer wir sind, sondern wer wir sein können und wonach wir uns sehnen zu sein.

der spiegel fungiert eben nicht als reflektionsfläche für unser eigenes denken, fühlen und handlen, sondern er tut viel mehr - er zeigt uns genau das, was es bei uns und in uns zu entwickeln und zu verwirklichen gibt, damit wir in richtung ganzheit wandern.

übrigens, genau dafür bin ich allen spiegeln die mir im laufe meines lebens begegnet sind und noch begegnen werden, so lange ich sie brauche um in richtung ganzheit zu wandern, sehr dankbar. ansonsten schaue ich, je älter ich werde, lieber in mein spieglein an der eigenen wand, das ist zum einen sinnvoller und zum anderen weniger ablenkand und verwirrend als das ewige spiegelspielchen, das zu nichts anderem führt als von mir selbst weg.

Sonntag, 23. Oktober 2011

von der dauer

als sie die tür hinter sich zuzog wusste sie, sie würde alleine weiter gehen. so war es jetzt und so war es immer gewesen. es hatte nie lange gedauert. es konnte nicht lange dauern, denn die dauer und sie waren einander fremd. nicht, dass sie sich etwas dauerhaftes nicht gewünscht hätte, es sich nicht vorstellen konnte. aber das nein gegen das dauertüchtige war in ihr, schlug im immer gleichen rhythmus gegen alles was sie festhalten wollte, wie das herz in ihrer brust. sie war eine, die sich selbst folgte und verließ, was sie von sich selbst trennen wollte.

der anspruch auf dauer, und war es nur der anspruch auf dauerhafte nähe, wenn man diesen anspruch nur im entferntesten an sie stellte, wenn sie das gefühl hatte, dass man ihn an sie stellte, erschien ihr wie die aufrichtung eine mauer zwischen ihrer seele und dem leben, das in bewegung war. sie konnte nicht stillstehen, nicht bleiben. sie musste immer neue türen öffnen, musste sehen, spüren und erfahren über sich selbst hinaus, um sich selbst zu begreifen.

während sie die treppe hinunterlief, dachte sie an die worte, die einmal einer, der den glauben an dauer brauchte wie die luft zum atmen, zu ihr gesagt hatte: du machst alles kaputt, noch bevor es etwas werden kann. sie sah sein gesicht vor sich, das sie böse angestarrt hatte. sie erinnerte sich mit jeder faser ihres körpers an den hass in seinem gesicht. sie erinnerte sich an das schuldgefühl, dass diese worte in ihr ausgelöst hatten, weil sie anders war als er, der die dauer liebte und geglaubt hatte falsch zu sein in ihrem anderssein. sie erinnerte sich an die worte der rechtfertigung, die sie ihm entgegengeschleudert hatte, an ihr: alles ist, auch ohne etwas werden zu müssen. sie erinnerte sich an die wand von wut an der ihre worte abgeprallt waren und an die verletzung die zurückgeblieben war, bei beiden.

das gefühl blieb einen moment und für diesen moment drückte es ihr die kehle zu. aber es war nur ein moment und sie lief weiter, hinaus in den kalten herbstmorgen. dieses mal ließ sie das schuldgefühl hinter der zugezogenen tür.

Samstag, 22. Oktober 2011

irgendwann

irgendwann war es ein machtkampf geworden. was am anderen fazinierend gewesen war, wurde zur provokation, zur permanenten herausforderung. ein schlagabtausch, der die faszination zerschlug und die sympathie verletzte.

irgendwann war es ein ständiges spiegelzerschlagen geworden. was im anderen gesehen wurde, sie auf sich selbst zurückwarf, zur fragmenterierung des eigenen ichs. ein zersplittern der eigenen sicherheit, das handlunsgunfähig machte.

irgendwann war es ein rückzug geworden. was am anderen anziehend gewesen war, wurde zum versuch des abstoßens eines feindlichen etwas. ein voneinander wegbewegen, das sie auf die innere einsamkeit zurückwarf.

irgendwann war es eine müßige besserwisserei geworden. das was am anderen erfüllend gewesen war, wurde zum behaupten eigener standpunkte. ein sinnloses revierverhalten das um sich selbst rang.

irgendwann war es ein schattentanz geworden. was im licht des anderen zu tage trat, musste zertreten werden. ein hilfloses wüten, das gewesenes schönes vernichtete.

irgendwann waren sie feinde geworden, was am anderen gut gewesen war, wurde zum sinnbild des bösen. ein zerstörendes angstgefühl, das die liebe nicht mehr aushielt.

dann verließ sie die liebe.

Freitag, 21. Oktober 2011

Der Hund

sie hatte den hund gewollt. später einmal sagte sie zu mir, sie habe jemanden gewollt, der sie bedingungslos liebt. es war ein cockerspaniel, ein hübscher kleiner rotbrauner kerl mit sanften großen augen und einem fell, zart wie seide. er war einer von äusserst nervösem gemüt, aber das stellte sie erst später fest. hätte sie es früher bemerkt, wäre alles anders gekommen, oder auch nicht. ich weiß es nicht.

ihre beiden kinder liebten den hund. besonders die tochter liebte den hund. es war liebe auf den ersten blick, die art liebe, die sich eingräbt und bleibt, ganz gleich wie viel zeit vergeht. der hund liebte die tochter. vielleicht war das das dilemma. es war ihr hund. teilen wollte sie nicht, nicht den hund und nicht die bedingungslose liebe des hundes. sie hören auf die, die ihnen das futter geben, sagte sie und fütterte den hund. sie verbot der tochter ihn zu füttern. es half nichts. der hund und die tochter das war liebe auf den ersten blick und sie wurde jeden tag größer und inniger. der hund folgte der tochter auf schritt und tritt. da half auch das füttern nicht. auch die leckerlies halfen nicht, die sie dem hund zwischendurch ins maul schob, ob er sie wollte oder nicht.

weil er ein guter hund war kam er zu ihr, wedelte mit dem schwanz und leckte über die hand die ihn fütterte, als wolle er sagen, ich liebe dich, aber ich liebe auch deine tochter. es genügte ihr nicht.

sie begann den hund zu verachten. immer öfter ignorierte sie sein schwanzwedeln. immer öfter schrie sie ihn an. die leckerlies mit denen sie ihn gelockt hatte, landeten im mülleimer.

der hund, einer von aüsserst nervösem gemüt, spürte das. obwohl er längst stubenrein geworden war machte er manchmal kleine pfützen, die dunkle flecken auf dem teppichboden hinterließen, die die tochter wegzureiben versuchte. sie sah es und dann schrie sie den hund an und schimpfte mit der tochter, die ihn hatte schützen wollen.

an einem mittag als die tochter von der schule nach hause kam war der hund weg. ich habe ihn fortgebracht, zu einem förster, sagte sie zu der tochter und dass der pisser es dort bessser habe.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

verstörendes

das ding hat immer zwei seiten, sagte er und grinste. er wusste, dass dies weder eine neue noch eine sonderlich geniale feststellung war. ich meine, man sollte jedes ding immer von zwei seiten betrachten, setzte er nach, als habe diese banale feststellung untermauerungsbedarf.

ich bin nicht blöd, sagte sie und grinste zurück. sie wusste, dass er kein ding meinte, nur ding sagte, weil das, was er eigentlich meinte kein ding war, sondern eine beziehung, ihre beziehung. es störte sie. vor allem störte sie, dass er sie zu oft störte. besonders störte er ihre gedanken, mischte die seinen in die ihren, die so anders waren als die ihren. manchmal verstörte sie das und sie kannte sich nicht mehr aus in dem was sie dachte, begann zu zweifeln an dem was sie dachte, gewöhnte sich an das gedachte ständig abzugleichen mit dem was er anders dachte, was sich störend auf ihr denken auswirkte. wenn es schlimm kam, warf er ihr vor sie sei gestört und sie warf es ihm zurück. vorwürfe, die vorschläge ersetzten, die man hätte machen können, nach denen man hätte handeln können. die vorwürfe trafen wie wurfgeschosse, hatten verstörende wirkung.

das ding ist kaputt, sagte sie. das ding, das ihre beziehung war, die er ding genannt hatte. egal von welcher seite ich es betrachte, sagte sie. aber er ließ sich nicht stören und warf ihr wieder die andere seite hin, die er sah von dem ding, dass sie als ganzes sah und wusste, dass es kaputt war.


vielleicht ist dass das problem, sagte er, dass du es als ganzes siehst und nicht die beiden seiten für sich. da ist auch das gute. sie nickte schwach mit dem kopf. ich sehe die gute seite des ganzen, aber sie ist genau groß oder so klein wie die ungute seite. das macht das ganze nicht besser. im ganzen ist es nicht gut, egal wie gut eine seite ist.

er sah sie an, seine mundwinkel zuckten nervös, es stört mich nicht, dass du das nicht sehen willst, ich bleibe dabei, das ding hat immer zwei seiten.

Dienstag, 18. Oktober 2011

abschied

heute morgen
wieder ein morgen
ein anderer morgen heute

nicht, dass es ein unbekanntes ist, dieses gefühl, dass heute alles anders ist als gestern
das ist mir vertraut
längst weiß ich, dass leben veränderung ist
längst weiß ich, dass leben auch abschied bedeutet
ich verabschiede mich von jedem tag
jeden abend
um neu zu beginnen
am morgen

dieses morgen ist anders
an diesem morgen weiß ich, dass es noch anderen abschied gab als den vom tag
längst
ich hatte ihn nur nicht bemerkt.

Montag, 17. Oktober 2011

über die sinnlosigkeit kollektiver wut

wut, überall zeigt sich wut. sie wird laut und lauter. alle schimpfen, alle sind wütend auf die da oben, auf die, die uns regieren, die politiker, den staat. gut, wenn man die schuld irgendwohin schieben kann, mit dem finger auf etwas zeigen kann, was außen ist, dann ist man sie los die verantwortung und die wut verpufft damit auch gleich. dann dauert es nicht mehr lang und dann kommt es wieder dieses: es ist halt so wie es ist, kann man nichts machen, halten wir durch und gut ist.

aber ist das wirklich so, ist das alles nur im außen, sind das nur die da draussen, die da oben, die das alles anrichten was ungut ist und leben schwer macht?

es ist nicht so!

der zusammenhang zwischen uns und dem außen, zwischen uns und der gesellschaft, zwischen den krisen der seelen und der zeit ist keine einbahnstrasse, sondern ein wechselseitiger austausch von energien.

wir sind keine marionetten, keine leblosen puppen, die an fäden hängen. so einfach ist das nicht. wir können nicht nur reagieren, auch wenn wir diese haltung verinnerlicht haben, die lähmung sich ausbreitet und handeln als unmöglichkeit erscheinen lässt.

wir alle sind aktive mitglieder dieser gesellschaft, aktive mitgestalter dieser welt und vor allem sind wir schöpfer unserer persönlichen lebenswelt. jeder von uns trägt dieses wissen um diese schöpferische energie in sich, aber bei vielen von uns ist es verschüttet. es ist überschattet von unsicherheit und angst, zugedeckt durch eine allgemeine athmosphäre von ohnmacht.

warum ist das so?

man hat uns glauben gemacht, dass krisen und probleme lästige aspekte des lebens sind, die wir, schaffen wir es nicht, sie zu verdrängen, ertragen und aushalten müssen. man hat uns beigebracht, dass leiden zum leben gehört und unausweichlich ist. was wir besonders gut können ist leiden ertragen, weil es uns anerzogen wird und wir machen es mit unseren kindern genauso. wir erklären ihnen, dass sie sich anpassen müssen, dass sie funktionieren müssen, dass sie nicht auffallen dürfen, dass anderssein ungut ist und nur probleme macht. pass dich an kind, denn sonst gibt es probleme, sonst hast du es schwer im system.

anpassung und leiden, wobei letzteres aus zu viel anpassung entsteht, als einen unabdingbaren teil des lebens zu verinnerlichen ist ein symptom unserer kollektivneurose.

das leiden als unausweichlichen teil des lebens zu kultivieren ist ein sehr wirksames instrument um menschen in schach zu halten und um sie manipulieren zu können. die folge ist eine resignative anpassung an umstände, die eigentlich nicht aushaltbar sind.

diese resignation ist es, die handlungsunfähig macht, die den status quo hält und ihn manifestiert. die gesunde energie der wut drückt sich nach innen, anstatt sich als kreative energie zu entladen. unsere gesellschaft ist krank und wir mit ihr, denn wir sind diese gesellschaft, jeder einzelne von uns und weil das so ist, sind wir alle verantwortlich für das was ist, ob gut oder ungut.

das laute, mit dem finger auf die zeigen, die angeblich die macht haben und sie damit zu verdammen, ist eine folge dieser resignativen anpassung. oh ja, es ist verdammt einfach, weil man dann nichts tun muss, weil man sich unschuldig wähnt, man opfer ist. das ist verdrängung, behaupte ich. verdrängung die nicht nur unreflektiert und blauäugig ist, sondern unsere lebenskraft lähmt.

wozu führt anpassung und was macht sie mit uns?

je mehr der mensch sich mit seinen erwartungen der wirklichkeit anpasst, desto mehr verliert er das bewusstsein dafür, was er eigentlich will oder wollte, vor allem verliert er das bewusstsein dafür wer und was er ist.

die kluft zwischen dem, was er ist und dem, was ihm das außen als wirklichkeit verkauft, wird täglich kleiner, er passt sich an. in folge schrumpft der abstand zwischen dem eigenen wollen und der propagierten wirklichkeit, die kluft schrumpft, bis sie gänzlich verschwindet und es keine kluft mehr gibt - der mensch ist in der ihm verkauften wirklichkeit gelandet. er hat sich selbst verloren, ist unfähig geworden in die aktive bewältigung der eigenen wirklichkeit zurückzukehren und einzugeifen.

das ist was ist. die möglichkeit in dieser entwicklungstufe die weichen noch anders zu stellen ist verloren. aber der mensch ist nicht das arme opfer, er ist selbst verantwortlich, denn er hat sie sich seine handlungsfähigkeit und seine ureigenen träume nehmen lassen.

im tieftsten wissen wir alle: die wut, die sich gegen das außen richtet ist im grunde die wut gegen uns selbst, gegen die eigene schwäche, die lediglich nach außen projiziert wird.

da stehen wir jetzt und die wut und der frust wachsen mit jedem tag, aber es tut sich trotzdem nichts. die krise geht weiter, es kippt da draussen und wir kippen mit. manche von uns haben schon alles verloren, andere klammern sich noch an das, was sie besitzen und hoffen, dass es ihnen bleibt. es wird nicht so bleiben, auch das wissen wir, die schere geht mehr und mehr auseinander. noch mehr werden noch mehr verlieren.

da gehen jetzt manche auf die strasse und demonstrieren gegen die korruption der banken und er regierung, das internet quillt über von wehrt euch parolen und klagen und dem schrei nach allumfassender liebe als ersatz für sicherheit, selbstverwirklichung und lebensqualität, da sind die, die aufrufen endlich zu handeln, aber es verändert sich nichts. handeln tun die da oben, egal wie laut wir schreien und aufbegehren.

warum tut sich nichts?

es tut sich nichts, weil wir diese wut zwar ausdrücken und mehr und mehr ins außen schreien, aber dennoch, die meisten von uns warten, wie sie es gewohnt sind, wie sie es sich zur gewohnheit gemacht haben, sie warten bis irgendeiner, ein politiker oder eine partei alles anders macht, im besten falle besser.

wir warten und schimpfen und schreien und mit diesem schreinen und schimpfen sind wir genau das, was wir schon immer waren - ohnmächtig. ohnmächtig wie ein kind, das schreit und sich auf den boden wirft und mit den füßen strampelt, weil es nicht bekommt, was es haben will. ändert sich damit etwas für das kind? wenn die mutter es nicht für das kind ändert, ändert sich für das kind rein gar nichts. wenn vater staat es nicht ändert, ändert sich für uns nichts, da können wir schreien und demonstrieren so laut und so lange wir wollen.

dieses schreien ist ein infantile aktion eines volkes, das von denen da oben belächelt wird.

und jetzt wo die wut so laut wird liest man plötzlich allerorten von demut und davon, dass wir doch dankbar sein sollen, denn so schlimm ist das ja alles nicht. demut - ein wunderbares wort, nur dass die meisten gar nicht wissen, dass dieses wort eben nicht bedeutet, dass man sich demütig unterordnen und dankbar sein soll für das was keine dankbarkeit verdient hat. In dem wort demut steckt MUT drin. und zwar der mut sich eben nicht zu beugen, da wo es keinen sinn macht, wo es nur wieder dahin führt, wo sie uns hin haben wollen - angepasst und resigniert.

der mut ist es, der fehlt, der mut für uns selbst und in unserem sinne zu handeln, der mut erst mal für uns selbst das mögliche zu tun, was zu tun ist, nämlich nicht alles zu schlucken, das mögliche zu tun in unserem eigenen leben und die kleinen dinge anzupacken, die uns im eigenen leben stinken, die ungut sind, menschenverachtend und die uns wütend machen.

mut ist, dem typen vom amt einmal klar zu machen, dass er uns so nicht behandeln kann, mut ist dem auftraggeber zeigen, dass die eigene arbeit einen wert hat, der entsprechend bezahlt werden muss, mut ist dem anderen zu sagen, wenn er einen verletzt, mut ist anderen zu unterstützne, die weniger chancen und kraft haben als wir, mut ist unseren kindern mut zu machen, die zu sein, die sie sein wollen - zum beispiel. mut ist dort zu helfen, wo es möglich ist, nämlich gleich nebenan, unserem nächsten zum beispiel. mit diesem mut verändert sich etwas, langsam aber sicher, wenn das jeder macht, da wo er kann.

hören wir also endlich auf unsere energie da hin zu lenken, wo sie nichts ausrichtet, hören wir auf sie im eigenen leib zu deponieren oder sinnlos ins außen zu posaunen, fangen wir an und kümmern uns um unser eigenes leben und um das leben unserer nächsten anstatt in der anonymen masse eine ohnmächtige wut zu kultivieren, die nichts ausrichtet ausser, dass sie uns am handeln im eigenen leben hindert.

fangen wir an mutig zu sein, dort wo es zu handlungen führt und die welt wird sich verändern.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

momentaufnahme: ein ganz normales briefing

... und das geht so!
sie: also, wir denken das mal an.
ich denke: andenken? was ist das denn?
sie: also, wir basteln da noch an der grafik, layout, hm, sie wissen schon. der kunde hat da auch noch änderungswünsche, den ein oder anderen, möglicherweise. kann schon sein. aber wir denken das schon mal an.
ich sage: aha und weiß immer noch nicht, wie ich mir andenken vorstellen soll. draufrumdenken, das sagt mir eher was.
sie: also noch aaaaaalles offen. aber sie können das auch schon mal mit andenken. fangen sie doch schon mal an texte anzudenken.
ich denke: aha, ich soll das mit andenken schon mal anfangen? ich weiß aber gar nicht womit ich schon mal anfangen soll. ist ja erst angedacht, denke ich.
ich: also, ich soll schon mal?
sie: also, sicher, denken sie ruhig mal mit an.

ich denke: ich hab große lust aufzustehen und auf den tisch zu ....

das wär dann ein andenken. oder?

Dienstag, 11. Oktober 2011

einer und alle

einer sagt, es gibt nur den teufel
ein anderer rennt in die kirche und denkt, dass er da seinen gott findet
einer glaubt an nichts, ausser an sich selbst
einer denkt sich ein utopia aus, weil ihm die realität nicht gibt was er sucht
einer hängt sich an einen anderen, weil er glaubt ohne ihn nicht leben zu können
einer macht seine arbeit zu seiner religion
einer kämpft für den weltfrieden, weil er sich etwas großes vorgenommen hat
einer lebt in den tag hinein und lässt sich treiben weil er glaubt, dass er sowieso nichts ändern kann
einer denkt immerzu, weil er angst vorm fühlen hat
einer nimmt drogen, weil er aus der welt flüchten will
einer schlägt seine frau, weil er sich selbst meint
einer gibt den gutmenschen, weil er sich schuldig fühlt
einer hat eine vision, die ihm die liebe ersetzen soll
einer schreibt geschichten, weil er die worte liebt
einer ritzt sich die arme, weil er sich sonst nicht spüren kann
einer singt, weil er so seine angst nicht spürt
einer verschläft sein leben, weil er nicht wach sein will
einer weiß, dass alles im leben möglich ist und versucht das mögliche
einer fühlt sich ohnmächtig, weil er gescheitert ist
einer fällt zu boden und steht nicht mehr auf
einer fotografiert, weil er um die vergänglichkeit weiß
einer schimpft auf alles und jeden, weil er sich selbst nicht leiden kann
einer pflanzt rosen, weil er hoffnung pflanzen will
einer lächelt, weil er weiß, dass es der kürzeste weg zwischen menschen ist
einer gibt, weil er weiß, dass geben selig macht
einer nimmt, weil er glaubt, dass er nicht genug bekommt
einer hofft auf die große erkenntnis und findet sie nicht
und alle suchen ... was?

Montag, 10. Oktober 2011

utopia

der junge maler redete von utopia
einem nicht ort
von dem er wusste dass es ihn nicht gab
utopia eben
ein nichts, das es nicht gab und nie geben würde
und seine augen leuchteten

da draussen nicht
da würde es ihn nicht geben
sagte er
und das ihm das egal sei
weil es ihn gab
da drinnen in ihm selbst

aber er würde ihn erschaffen diesen ort da draussen im außen
für neun tage
und es sei ihm egal
wenn er dann wieder im nichts verschwinden würde sein nichtort

er fragte mich
gehst du mit nach utopia?

ich sagte du bist verrückt
wie kann ich mitgehen an einen nicht ort?

aber dann musste ich lächeln
weil ich schon längst mitgegangen war.

Freitag, 7. Oktober 2011

gedankensplitter 29 ... einfach so


manchmal rutscht mir das lächeln ab, das mir besser steht als meine traurigen augen ..
einfach so ... 
manchmal klatscht mir die wut ins gesicht, dem die gelassenheit besser steht ... 
einfach so ...
manchmal laufen mir die tränen über die wangen, denen ein zartes rosa besser steht ... 
einfach so ...
manchmal steckt mir ein schrei im hals, der nicht über meine lippen kommt ... 
einfach so ... 
nein ... 
nicht einfach so ... 
so einfach ist es nicht.

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Sprachlosigkeit






heute früh las ich in facebook auf der seite eines menschen, den ich schätze, weil ich die worte schätze, die seine gedankenwelt ausdrücken, diesen satz: "je mehr ich zu sagen hätte, umso sprachloser werde ich." ich verstehe das gut, weil ich es kenne, weil ich es fühle, immer wieder, dieses "ich will sagen, will ausdrücken, was mich umtreibt, was sich sehe in der welt, die in mich eindringt, weil ich ein teil von ihr bin und in ihr lebe, weil ich noch keine andere gefunden habe. und dann ist da dieser moment, wo ich keine worte finde, die mein gedachtes, mein gefühltes ausdrücken könnten und dann frage, warum überhaupt etwas sagen, wo doch die sprache die quelle aller missverständnisse ist, wie elias canetti einmal schrieb. ganz gleich, was ich sage, missverstanden zu werden ist möglich und darüber hinaus, nicht verstanden zu werden ebenso und das ist ein einsames gefühl. in diesen momenten bin ich sprachlos.

es ist keine seltenheit, dass tief denkende menschen sprachlos werden und sich in die eigene innerlichkeit zurückziehen. wer sprachlos wird steht vor einem klaffenden abgrund zwischen der eigenen innerlichkeit und der welt, in der sprachlosigkeit entzieht sich das individuum dem außen. es fühlt sich allein, abgeschnitten von allem, es fühlt eine tiefe ohmacht, die aus enttäuschung geboren wird, über das, was das eigene innere verletzt. aus verletzung heraus, aus ohmacht heraus, wird sprachlosigkeit. sprachlosigkeit erwächst aus dem gewahrsein, dass kein wort die zustände und schon gar nicht die ändert, die die zustände schaffen. doch, was nützt dieser rückzug und was bedeutet er für das individuum und die welt in dem es lebt?
wenn sich der mensch jeder kommunikation entzieht, entzieht er sich auch der beschreibung seines ichs und so ist kein zugang zum anderen mehr möglich. schlussendlich bedeutet es, der mensch lässt sich auf keinen dialog mehr ein, ausser dem inneren dialog mit sich selbst. was dieser mensch tut oder nicht tut bleibt im verborgenen, es hat keine folgen, es bleibt bedeutungslos, was ihn selbst angeht, geht niemanden etwas an. ich habe das gelebt, ich habe es gelebt in einer zeit als die ohnmacht so groß war, dass kein wort, das sie hätte ausdrücken können, zu finden war. in mir war ein unüberwindbarer abgund und er war zwischen mir und den anderen. in diesem zustand verbrachte ich zwei jahre. es waren gefühlt hundert jahre einsamkeit. ich war so sprachlos, dass ich worte nicht einmal mehr schreiben konnte, weil sie mir als das untauglichste mittel erschienen auszudrücken, was den schmerz in mir auch nur im ansatz hätte fassbar machen können. nach diesen hundert jahren sprachlosigkeit und der emmigration ins eigene ich, die sie mit sich brachte, weiß ich, dass dieser rückzug in die sprachlosigkeit ein rückzug aus der welt war, und dass dieser rückzug aus der welt nichts anderes ist, als die weigerung auf die ansprüche der welt zu antworten. jeder persönliche ruckzug aus der welt bringt mit sich, dass die bezogenheit auf das leben zur bezogenheit auf das selbst wird, das sich damit seines platzes in der welt beraubt. das selbst verliert seine vitalen bedürfnisse und was am anfang noch wie eine splendid isolation empfunden wird, wird zum leiden an sich selbst und führt schlussendlich zum bedrohlichen affekt tiefer verzweiflung und dem gefühl von lebensmüdigkeit.

in der welt ändert das nichts. die welt kann ohne die sprachlosen sein, sie dreht sich weiter. sprachlosigkeit nützt niemandem, weder dem individuum noch der welt. aber jeder persönliche rückzug denkender, fühlender menschen amputiert die welt um ein stück humanität. ich wünsche mir, dass die sprachlosen zu sprechen anfangen. auch wenn worte die möglichkeit von missverständnissen in sich tragen, die möglichkeit nichts auszurichten, die möglickeit nichts zu ändern, so tragen sie doch auch genauso die möglichkeit in sich, dass sie verstanden werden, dass sie etwas ausrichten, dass sie etwas ändern bei denen, die verstehen. ich wünsche mir ein ende der sprachlosigeit derer, die wirklich etwas zu sagen haben, weil ich ich mich sonst noch einsamer fühle in der welt, denn ich bin ebenso wenig fähig allein zur wahrheit zu wandern wie alle anderen. und wenn ich doch wieder einmal in den zustand der sprachlosigkeit geraten sollte, werde ich mich an die worte von a.m.roviello erinnern, der einmal sagte: "wer sich aus der welt zurückzieht, der lässt die welt mit dem bösen, das sie besetzt zurück", und das will ich nicht.






Mittwoch, 5. Oktober 2011

afghanistan

mittwochabend. ich bin für meine redaktion im kabarett im mainzer unterhaus.
am eingang hole ich mir die pressekarte, neben mir steht eine ältere frau und verzieht das gesicht. schade, ich dachte, die wird nicht mehr abgeholt, sagt sie, und dass alle karten ausverkauft sind und sie jetzt wohl pech hat und dass ich bloß was gutes über den kabarettisten schreiben soll, den findet sie nämlich wunderbar und wenn ich das nicht täte, was gutes schreiben, bekäme ich es mit ihr zu tun. ich denke kurz - bad vibrations, vergesse den gedanken aber gleich wieder und gehe in die vorstellung.

der saal ist zum platzen voll. die stühle stehen so eng aneinander, dass ich unwillkürlich von allen seiten mit meinen nachbarn in fast schon körperliche berührung komme. das ist mir unangenehm, ich fühle mich eingepfercht, ich mag nicht berührt werden von denen, die ich nicht kenne. an diesem abend habe ich keine wahl. ich verdiene mein geld mit schreiben. heißt, gehen geht nicht.

der kabarettist kommt auf die bühne, das publikum applaudiert frenetisch schon bevor der mann den mund aufmacht. ich denke, der muss ja was ganz tolles auf lager haben, wegen der vorschusslorbeeren. ich bin gespannt.

die leute kennen den mann aus dem fernsehen. ich weiß es, weil es in der pressemitteilung steht. der ist also im fernsehen, ich habe ihn aber im fernsehen nie gesehen, weil ich nicht fernsehe, jedenfalls sehr selten und dann schaue ich mir einen guten film an und mache den kasten danach wieder aus.

also gut, denke ich, der ist aus dem fernsehen, daher die vorschusslorbeeeren. für die leute ist das etwas besonderes, wenn einer im fernsehen ist und aus dem fernsehen herauskommt. ein promi zum anfassen, das stehen viele leute drauf. warum das so ist habe ich noch nie verstanden.

der mann auf der bühne macht den mund auf und entlädt einen wortschwall via publikum. ich habe schwierigkeiten ihn zu verstehen. der mann redet in mundart, hessisch vom derbsten. ich gebe mir mühe zu ihn verstehen. die leute lachen nach jedem satz, das macht es mir nicht leichter den mann mit dem derben hessisch zu verstehen.

das ist anstrengend. ich fühle mich immer eingepferchter. die luft ist nach einer viertelstunde zum schneiden dick. menschengeruch breitet sich aus, wird zu einem dicken dunst, der mir das atmen schwer macht. eine mischung aus saurem schweiß von links und süßem parfüm von rechts steigt mir in die nase. mir wird leicht übel.

der typ auf der bühne wechselt die jacke. er schlüpft in die rolle eines bundeswehroffiziers, stellt sich nun, in hamburger dialekt, als oberst soundso vor.

ich verstehe ihn jetzt. ich verstehe jedes wort.

ich traue meinen ohren nicht, der redet vom krieg in afghanistan und den bundeswehrsoldaten, die dort sterben, von fremd- und eigenblutvergießen und warum das fremdblutvergießen sinnvoller ist für die deutsche republik und ihre soldaten da unten in afghanistan. die leute lachen, der saal dröhnt vor lachen. die luft ist zum schneiden dick.

ich kann nicht lachen. wer kann lachen, wenn es um blutvergießen geht?

die leute können lachen.

ich denke, wie schrecklich das ist, dieses lachen und wie gut es ist, dass das jetzt keiner hört von den soldaten in afghanistan und keiner von den familien der soldaten in afghanistan, keine der familien von den toten und den noch lebendigen soldaten in afghanistan.



Montag, 3. Oktober 2011

Ernte ... dank

es ist erntedankfest. ich stehe vor der kirche. nach dem gottesdienst ist eine vernissage angesagt. deshalb bin ich da. ich warte vor geschlossenen türen. beim gottesdienst war ich nicht, interessiert mich nicht. ich halte meinen gottesdienst mit gott und mir. ich bin da weil ich meinen job zu machen habe. ich schreibe über die ausstellung.

vor der kirche steht der bettler. er ist alt, sein gesicht ist mit einem schwarzen bart fast völlig zugewachsen. die blauen augen sind trüb. der bettler zittert. ich denke, er hat vielleicht parkinson. der bettler stützt sich zitternd auf eine krücke, er hat mühe sich zu halten, immer ist er leicht am kippen.

es ist heiß an diesem sonntagmorgen des erntedankfestes, die sonne brennt vom himmel. trotzdem hat der mann einen dicken wintermantel an und eine schwarze mütze auf dem wackelnden kopf. er schwitzt. kleine schweißperlen tropfen über sein zerfurchtes gesicht. in der hand hält er einen pappbecher. der becher zittert im rythmus der hand.

er wartet. die kirchentür geht auf. leute strömen ins sonnenlicht, versammeln sich. die helle sonne rückt satte gesichter ins späte morgenlicht. der bettler steht immer noch da, seine aufmerksamkeit geht in richtung der leute. er wartet, still, den becher in der hand.

die leute bilden kleine gruppen. manche beißen in rotbackige äpfel. eine gabe des pfarrers für die gemeinde, denke ich und dass ich das geräusch, wenn jemand in einen apfel beißt noch nie leiden konnte.

die leute reden und lachen, schlucken apfelstücke runter. der mann wartet immer noch zitternd mit dem becher in der hand. ich sehe, dass er gesehen wird. ich sehe, dass sie ihn sehen. alle sehen ihn. sie gucken hin, gucken durch ihn hindurch, gucken über das zittern und den becher weg.

ich werfe meine zigarrettenkippe aufs pflaster und zertrete sie. ich gehe in die kirche und hole mir drei äpfel aus dem korb am eingang. ich lege einen apfel in die freie zitternde hand des bettlers, die beiden anderen stopfe ich ihm vorsichtig in die taschen seines mantels. dann lege ich das letzte kleingeld, das ich in meinem portemonaie finde, in den wackelnden pappbecher.

die leute sehen es. ich sehe, dass sie es sehen, weil ich will, dass sie es sehen. ein mann und eine frau aus der menge zücken den geldbeutel und tun es mir nach. der rest frisst äpfel und erstickt nicht daran.