Montag, 5. Dezember 2011

M E D E A

Malerei: Angelika Wende

lust hatte er nicht, lieber hätte er den abend zu hause verbracht, sich arbeit mitgenommen. er hatte genug arbeit und eigentlich keine zeit für zerstreuung. aber irgendetwas zog ihn dann doch ins theater. ein geschäftsfreund hatte ihm die karte geschenkt. premiere und danach premierenfeier. du musst mal raus, hatte der geschäftsfreund gesagt. er hatte seinen widerwillen besiegt, war mitgegangen. es sind ja nur ein paar stunden, gedacht, und dass es ihm vielleicht gut tun würde einmal rauszukommen.

die luft im theater war stickig. er öffnete den hemdkragen und versuchte sich auf das geschehen auf der bühne zu konzentrieren.


diese leidensmine. sie galt ihm, eine anklage gegen sein ganzes sein, sein da sein, das er ihr entzogen hatte. sie litt sichtbar. das leid zog sich wie gitterstäbe um alles und jeden, der sie umgab. sie sah nur noch sich selbst, schloss alle anderen aus und gleichzeitig ein in ihr leid.

sie ist blind vor hass, dachte er. dabei hatte er gedacht, dass nur die liebe blind macht. das sagte man jedenfalls. jetzt sah er, dass leid das gleiche anrichtete, auf eine zerstörerische weise. selbstzerstörerisch in einem nach aussen greifenden maße über die maßen des selbst hinaus, schwarzgalliges, leben zerstörendes.

zuerst hatte er schuldgefühle. dann mitleid. beides half nicht. ihr nicht und ihm nicht. dann kam das mitgefühl, das sie nicht annehmen konnte oder wollte. dann kam die wut auf ihre ignoranz. dann die ohnmacht. es dauerte bis er begriff, dass seine ohnmacht ihre macht war. es war ihre rache, geboren aus verletzter eitelkeit und verwundetem stolz oder dem verlust eines lebenskonzeptes. sie, die verstoßene. er, der ihr das angetan hatte. er sollte büßen.

auf der bühne krümmte sich die hauptdarstellerin, kreischte den hauptdarsteller an: durch schmähungen erleichtere ich mein herz. ich habe dich gerettet und du dankst es mir mit verrat, erwarbst ein neues bett, obgleich du kinder hast.er hielt sich die ohren zu.


was es genau war wusste er nicht zu sagen. er hatte gehofft, dass es vorrübergehen würde. immer wieder hatte er den versuch gemacht mit ihr zu reden. sie weigerte sich. sie gab das opfer, schlüpfte in die rolle, von der sie glaubte, dass das leben sie ihr zugespielt hatte. sie das arme opfer, er der gewissenlose täter, angeklagt und verurteilt, von ihr, wenn die welt es schon nicht tat. sie wollte rache. dass sie damit mehr als zwei gräber schaufelte war ihr nicht bewusst, oder es war ihr egal. der hass benutzte seine fresswerkzeuge. zerfressen, dachte er.

das gesicht der hauptdarstellerin glich einer leblosen fratze. 


sie war schmal geworden, eine reduktion der ganzen person auf das mindestmaß. dass sie immer unattraktiver wurde war ihr gleichgültig. das leid war größer als jede eitelkeit. seine ohnmacht war ihr triumph. sie wollte gewinnen, zerstören was sie nicht haben konnte, zerstören, was möglich war, wenn nicht ihn, dann sich selbst und das kind. er würde schon sehen.

er sah es, spürte wie sich die schlinge immer enger um sie zog, atmen schwer machte, leben ausschloss. am ende würde sie sich zuziehen. wem das nutze, fragte er sich. er sah die kollateralschäden um sich herum, die sie in kauf nahm.

manchmal fragte er sich, ob es schon immer in ihr gewesen war, das radikal zerstörerische. er hatte es nicht bemerkt, begriff, dass er sie nicht gekannt hatte, nicht erkannt in all den jahren. erschreckend, dachte er und fühlte die ohmacht, die sich über das vergangene legte, über das gegenwärtige und über das gegenwärtige hinaus.

er hoffte auf die zukunft, zählte auf die zeit, die wunden heilt. das sagte man doch. er glaubte daran, weil er daran glauben wollte, setzte seinen glauben gegen ihr wollen, das im begriff war jeden glauben an die zukunft auszulöschen.

wie weit würde sie gehen?

die verzweiflung, die handlungsleitend war, das ich von der welt abtrennte, die existenz ad absurdum führte, das versinken in leere, darin eingeschlossen der wunsch nach zerstörung, dessen was das ich zerstört.

auf der bühne legte medea jason die toten kinder vor die füße.

mit einem schlag stand sie vor ihm, wuchs aus dem aplaus des premierenpublikums heraus, die wahrheit, ganz groß: nein, dachte er, sie ist kein opfer. sie ist eine täterin. ihr größtes vergehen ist ihre unfähigkeit den tod der liebe zu akzeptieren.