Samstag, 7. Januar 2012

DIE PLICHT

die bücher stapelten sich auf dem schreibtisch.

bgb, hgb, strafgesetzbuch. gebundene papiertürme, vollgepackt mit informationen. das musste alles in seinen kopf hinein. er hasste paragraphen, hasste gesetze. messbare größen, starres von menschen ausgedachtes um recht und ordnung festzuschrauben, unbeugsames in worten fixiertes, ein sammelsurium von unveränderbarkeiten, das keinen spielraum ließ, seine gedanken einpferchte in den käfig purer akzeptanz.

es ist wie es ist, dachte er, sich selbst besänftigend, das gefühl von wut eindämmend, dass sich ausbreitete, wenn er sich dem lernstoff zuwendete, widerwillig auch dieses mal.

er zündete sich eine zigarette an. ein weiterer aufschub, eine kleine flucht, die ihm das miese gefühl gab es nie zu schaffen. wegschieben ist keine lösung, dachte er, wissend dass das nicht sein gedachtes war, sondern das des vaters. wegschieben war, was er am besten konnte. die erinnerung wegzuschieben gelang ihm nicht. die breitete sich aus, immer dann, wenn er in die pflicht genommen war.

er hatte sich entschieden, auf anraten des vaters, jura zu studieren. da hast du immer arbeit, die menschen begehen verbrechen, die sterben nicht aus die verbrecher, hatte der vater gesagt und karl hatte einsicht gezeigt. er wusste sowieso nicht was er wollte. er hatte es nie gewusst. ob er überhaupt jemals etwas gewollt hatte, wirklich gewollt hatte, hatte er vergessen. es sind nur noch zwei semester, beschwichtigte er seinen widerwillen, dann wars das. was das dann war, war ihm nicht klar, aber das war im moment nicht wichtig, wichtig war, dass er endlich fertig wurde mit dem studium. der vater wartete.

erst die pflicht und dann das vergnügen. die worte des vaters klangen ihm in den ohren, hämmerten von innen gegen sein trommelfell, gingen in ein summendes vibrieren über. wie ein tinitus, unheilbar, dachte er, dagegen gibt es keine medizin.

er achtete darauf, dass er seine pflicht tat. der vater konnte ihm nichts vorwerfen, wusste nichts von dem sträuben, das ihn quälte. die pflicht, er hatte nie etwas anderes getan, als sie zu erfüllen. während seine kommolitonen am abend beim bier saßen, saß karl am schreibtisch. vergnügen muss man sich verdienen, vibrierte es weiter, mittlerweile im ganzen kopf. karl hielt sich die ohren zu. das vibrieren interessierte das nicht, mit gewalt drückte es sich von innen nach aussen. es tat weh.

alles hat seinen preis, im leben kriegst du nichts geschenkt, auch das hatte der vater ihm eingehämmert. karl drückte die aufgerauchte zigarette in den überquellenden aschenbecher, griff nach der zigarettenpackung, zog eine weitere kippe herraus und zündete sie an.

am anfang hatten sie ihn noch gefragt, ob er mitkäme auf ein bierchen oder ins kino. die pflicht ruft, hatte er sie abgewiesen, immer wieder. irgendwann fragten sie nicht mehr. er hatte längst vergessen wie sich der ton seiner haustürklingel anhörte. das schnappende geräusch, das die tür machte, wenn sie ins schloß fiel, wenn er am späten nachmittag von der uni nach hause kam, war ihm vertraut. das klang wie - klappe zu, affe tot.

er musste lachen, das bild schien ihm gelungen. witzig, irrwitzig, dachte er, und dass irre werden die einzige chance war der pflicht zu entkommen, die der vater, ausser einer unheilbaren krankheit oder seinem frühzeitigen ableben, als ausrede akzeptieren würde. er lachte wieder. das lachen klang bitter, prallte dumpf gegen die bücherwand, die immer näher rückte. karl öffnete den hemdkragen, lockerte die krawatte, die ihm den adamsapfel zudrückte. er bekam trotzdem kaum luft. mit einem ruck stand er auf und riss das fenster auf. der vorhang rutschte von der schiene, fiel in sich zusammen und landete auf den braunen teppichboden. er bückte sich, hob ihn auf und warf ihn in den wäschekorb im badezimmer. das kalte licht der neonröhre knallte ihm ins gesicht wie eine ohrfeige. wenn du nichts spurst setzt es was, flüsterte die erinnerung. karl schüttelte den kopf um sie abzuschütteln. sein blick verhakte sich im spiegel. was er sah gefiel ihm nicht. er ähnelte dem vater immer mehr. er war schmal geworden, seine haut hatte einen gelblichen ton angenommen. zu wenig sauerstoff, dachte er, und dass er doch mal rausgehen sollte. seine lippen formten lautlos das wort stubenhocker.

er ging zum schreibtisch zurück. am vorhanglosen fenster blieb er stehen. draussen schien eine milde abendsonne, der lärm der strasse drang ins zimmer. die anderen saßen jetzt sicher im biergarten, genossen die wärme des sommerabends und hatten ihren spaß. erst die pflicht, dann das vergnügen, meldete sich das vibrieren in seinen ohren zurück. es wurde lauter, als er den schlüssel aus dem schloß zog, die tür aufriss, sie mit wucht zuschlug und die treppe hinunter rannte.

vor der haustür klatschte ihm der erste dicke regentrogen ins gesicht. morgen, dachte karl, drehte sich auf dem absatz um und ging nach oben.