Montag, 11. Juni 2012

Abschuss

sicher, sie hätte es auch anders sehen können. gelassener, mit humor oder zumindest so tun können, als sehe sie es gelassen oder mit humor.

sie hätte es wegstecken können, wie so vieles, das sie weggesteckt hatte. in den kleidern war es nicht stecken geblieben, das weggesteckte. vielleicht konnte sie es deshalb dieses mal nicht. dass sie dünnhäutig war wie pergamentpapier hätte er wissen müssen, er hatte jedenfalls immer wieder gesagt, er wisse es, hatte sogar gesagt, er spüre es.

er prahlte mit dem tollen schnappschuss, den er gemacht hatte, als er das i phone aus der hosentaschetasche zog. sein geliebtes i phone, das er bei sich trug wie eine brücke, die ihn mit dem aussen verband, sogar nachts. es fiel ihm schwer es auszuschalten, er tat es ihr zuliebe, in den nächten, in denen er bei ihr blieb.

wozu, hatte sie sich gefragt, muss man ein i phone haben. damit man nichts verpasste von all dem unwichtigen unter dem wenigen wichtigen, das es gab, im leben?

auf dem display erschien es, wurde sichtbar, mit einem daumendruck. eine nahaufnahme ihres gesichts. sie mit aufgerissenem mund, groß und blutrot wie eine wunde, wie ein riss im blassen gesicht. nein, das war nicht sie, diese scheußliche fratze, die er in einem von ihr unbemerkten moment, abgelichtet hatte.

oder war es ihres, war sie das, war sie das auch? und wenn sie es war, was sollte sie jetzt damit anfangen mit diesem, das bin ich auch.

sie war alt geworden, sie wusste es, litt darunter. sie spürte die müdigkeit, die kein noch so langer schlaf mehr vertreiben konnte. die zeit hatte ihr zerstörerisches werk längst begonnen. die zeit zerstört alles, dachte sie, das gesicht, den körper, die wünsche und die träume, die hoffnungen, am ende zerstörte sie das leben.

schaut, sagte er und zeigte es den anderen. sie lachten.

sie trank ihr glas leer, zog den mantel an und ging ohne ein wort zu sagen. unten vor der haustür weinte sie. sie schwor sich, diese fratze würde sie keinem menschen jemals mehr zum abschuss preis geben.