Mittwoch, 20. Juni 2012

ALT




man kann sich alles schön reden, wenn es nicht schön ist.
man kann anpassen und glätten, was nicht passt, wegschauen, wenn man nicht sehen will.
der mensch ist für die wahrheit nicht geschaffen. er zimmert sich illusionen, rettet sich über die tage und jahre der nichterfüllung seiner wünsche mit träumen und hoffnungen. nach vorne gewünschtes, welches das jetzt nicht zu erfüllen mag. sie lächelte schwach. das schlimmste ist die selbstlüge. niemand ist davor gefeit.

es ist gut. es ist nichts, woran man kritik üben darf, der mensch lebt von der hoffnung, die geboren wird, wenn da zu oft enttäuschung war. das wollen sie nicht hören, die menschen, aber mit der zeit, wenn du aufhörst dir etwas vorzumachen, begreifst du das. mit der zeit begreiftst du vieles, wenn du ehrlich mit dir selbst bist.

als ich jung war konnte ich nicht schnell genug erwachsen werden. als ich erwachsen war, vermisste ich die jugend. als ich alt wurde, trauerte ich über ihren verlust. ich begriff, dass sie das kostbarste ist, was wir haben. weil sie alles möglich macht, weil sie die offenheit für wunder in sich trägt, die unabhängig von zeitbegrenzung geschehen können. ich hatte so viel zeit, das war das geschenk, dessen ich mir damals nicht bewusst war. das vergehen der zeit erschien mir langsam, als sei sie undendlich ausdehnbar, alles schien erreichbar. 

sie lächelte. ich sah die lange vergangene jugend in ihrem vom alter gezeichneten gesicht aufleuchten. sie nahm meine hand. erinnerung, sagte sie, heute lebe ich in der erinnerung und von ihr. als ich begriff wie meine zeit schrumpft, wie wenig mir noch bleiben würde, ich sah es an den zerstörungen, die sie in meinem gesicht anrichtete, da erfasste mich die angst. im gesicht, da sah ich es zuerst. ich war erschüttert, als ich erkannte, wie sich meine züge auflösten, wie die konturen verwischten, die lider meiner augen sich nach unten zogen, tiefe linien sich eingruben und den ausdruck meiner mimik veränderten. das machte mich traurig. ich liebe das glatte, das ebenmäßige, das weiche, die härte, die meinen mund zu umzeichnen begann, gefiel mir ganz und gar nicht. ich machte den versuch mich zu trösten, indem ich mir sagte, gut, du hast dein leuchten verloren, aber du hattest es. sei dankbar für das gewesene und leuchte von innen. die erinnerung an das vergangene leuchten hielt mich eine ganze weile aufrecht. aber von jahr zu jahr, das verging, wurde mir klar, dass es gerade die erinnerung an ein gewesenes war, die mich am akzeptieren hinderte. meine realität würde porös, ich wurde dünnhäutig und anfällig im gewahrsein, dass die person, die ich war zu verblassen begann.

es war notwendig mich zu arrangieren, was mir schwer fiel, denn ich halte nichts von arrangements, sie sind ein klein beigeben, wenn du in die enge getrieben bist und keine wahl mehr hast. dann arrangieren wir uns, wenn das eigene wollen sich der durchsetzung verweigert.

sie versuchte sich aufzusetzen, dabei stieß sie einen leisen schmerzenslaut aus. der rücken, entschuldigte sie sich, er tut bei der kleinsten bewegung weh. sie gab auf, sank kraftlos auf das weiße kissen zurück, das mit dem grau ihres gesichts eine kontrastlose melange abgab. 

ist das nicht eigenartig, der körper gehorcht mir nicht mehr. er hat ein eigenleben. er ist schwach und krank geworden, obwohl mein geist es nicht will. die macht des körpers zeigt sich im alter, und du, mit deinem gedanklichen wollen, richtest nichts aus, gar nichts. das ist der moment wo du begreifts, wie zerstörerisch die zeit ist. sie zerstört alles, gesichter, hoffnungen, träume, wünsche, gewohnheiten, am ende zerstört sie  leben. 

sie schloss die augen. ich dachte sie würde einschlafen. aber sie sprach mit geschlossenen augen weiter. 

dann kam die müdigkeit. sie begann ganz plötzlich. ich habe dagegen angekämpft. aber sie war mächtiger als mein ankämpfen. ich musste mir die stunden einteilen in eine zeit der tätigkeiten und des ruhens. bewegung kostete mich kraft. ich las viel und schrieb, so wie ich es mein leben lang getan habe. aber ich merkte, dass alles was ich schrieb eine immer wieder neue wiederholung des längst geschriebenen war. es passierte nichts. der mikrokosmos in dem ich mich befand war klein geworden. später im leben, wenn wir zu studien unserer einzigartigkeit geworden sind, halten wir ausschau nach gefährten, die ebenso eigenartig geworden sind wie wir und dann stellen wir fest, dass uns die kraft für die suche fehlt und dass die gesuchten, die ähnliche erfahrungen, ähnliche gewohnheiten und gedanken haben, wie wir, an einem mangel an kraft leiden. sie fehlt um sich aus dem mikrokosmos hinauszubewegen. wir wissen, sie sind irgendwo, aber für uns sind sie unereichbar. 

das wesen des altseins ist die entdeckung der langsamkeit und zugleich ist es für viele von uns die entdeckung der einsamkeit. es ist das letztes stadium, das wir nicht mehr mit dauer und veränderung verbinden, sondern mit dem tod.

mein blick fiel auf das bild, das auf dem nachtisch stand. es zeigte einen gutaussehenden mann mit langen grauen haaren und leuchtenden blauen augen. als habe sie es gespürt, kam es leise aus dem grund des kissens, auch er hat mich enttäuscht. er ist vor mir gegangen, so hat auch er mich verlassen. wer alt wird in der liebe zum anderen, zieht immer den kürzeren. ich bin allein geblieben, das alter wehrt veränderungen ab. alte sind eine spezies für sich. die jungen begreifen das nicht und die alternden wollen es nicht wahr haben.

die alternden verstecken ihre angst vor dem alter. sie belegen sie mit tugendhaften worten wie charakter, erfahrung, würde, weisheit um der negativität von alt zu entkommen. sie sprechen von erkenntnis, von individuation, wenn sie zu den klugen gehören und von der eigenen wahrheit und gelassenheit, die sich herausbildet.

sie riss die augen weit auf und legte ihren klaren blick in die meinen, weißt du, ich bin enttäuscht und ich bin dankbar, ich bin betrübt und ich bin glücklich, ich bin erfüllt und ich bin leer, ich bin klug und ich bin es nicht, ich bin unendlich müde und ich bin hellwach. ich bin mir, was dieses leben angeht, in nichts wirklich sicher.