Freitag, 8. Juni 2012

Nutzlos




aus trüben augen sah sie ihn an. man sieht, dass sie viel weint, dachte er und an die tränen, die man die perlen der seele nannte, und dass ihre tränen sicher keine perlen waren, wenn dann allenfalls schwarze. die schatten unter ihren augen waren steingrau. er mochte sie nicht, ihr gesicht nicht und ihre ganze haltung nicht, dieses gebeugte an ihr, stieß ihn ab.

ich habe alles versucht, sagte sie, kaum hörbar.

es kostete ihn mühe ihr zuzuhören, sie flüsterte die worte. das war so seit sie zu ihm kam und sie wurde von mal zu mal leiser, als würde sie sich verflüchtigen, sich auflösen in ein undefinierbares nichts. irgendwie fürchtete er sich vor ihr. nicht wirklich vor ihr, aber vor ihrem kommen, davor fürchtete er sich. sie kam immer mittwochs um zwei nach seiner mittagspause. er hatte schon beim essen nicht den gewohnten appetit. er beschränkte sich an diesen tagen auf eine curry wurst, die er im stehen aß. es war, als würde ihm im wahrsten sinne des wortes das essen im hals stecken bleiben, wenn er an ihr kommen dachte. nicht selten hatte er gehofft, die stille stunde ihres kommens, wie er die sitzung mit ihr innerlich nannte, möge ihm erspart bleiben.

sie blieb ihm nicht erspart. sie kam jedes mal wieder und immer zehn minuten vor dem termin. das ärgerte ihn. noch mehr ärgerte er sich über den ärger, den sie ihn ihm auslöste. dabei war es sein job, er hatte ihn gewählt, weil er menschen helfen wollte. anderen helfen machte sinn, vielleicht den einzigen. er brauchte einen sinn um sich nützlich zu fühlen.

ich habe doch alles versucht, flüsterte sie, noch einmal. aber es ist egal, was ich anfange, es wird nichts. ich bin so unendlich müde.

er kannte die leier, sie spulte sie ab wie eine endlosschleife, immer wieder, jedes mal. ihm blieb nichts, als sie zu motivieren, ihr kraft zu geben um sie am aufgeben zu hindern.

sie hatte schon einmal aufgeben. sie war gefährdet. er wusste um seine verantwortung. er war es, den man angerufen hatte, als sie mit schlaftabletten im magen im krankenhaus lag. wie sie auf ihn kämen, hatte er gefragt und die schwester am anderen ende der leitung hatte geantwortet, weil man seine visitenkarte in ihrem morgenmantel gefunden hatte, den sie trug, als die tochter sie bewusstlos in ihrer wohnung gefunden hatte.

er trug die verantwortung und daran trug er schwer. sie hatte ihn wohl anrufen wollen, vorher und es dann doch nicht getan. sie hatte es ernst gemeint.

es hat nicht sein sollen, hatte er zu ihr gesagt, sie haben hier unten wohl noch etwas zu erledigen, als sie dann wieder kam, weil sie die therapie fortsetzen musste. die alternative wäre eine einweisung in eine psychiatrische klinik gewesen. sie hatte ihn gewählt, weil sie keine andere wahl hatte.

er sah sie an. suchte nach worten, irgend etwas, das sinn machte um ihr eine kleine dosis hoffnung mitzugeben, bis zum nächsten mittwoch. es ging ums reine durchhalten bei ihr. er glaubte nicht an sie und dass es einmal klappte. sie hatte recht.

irgend etwas in ihr hatte aufgegeben. sie hatte zu viele jahre zuviel einstecken müssen. zu viele verluste erlitten, ein schicksalsschlag nach dem anderen. sie war alt und ausgebrannt. sie hatte genug. er verstand sie.

vielleicht sollte ich ihr endlich die wahrheit sagen, dachte er. er setzte  auf die wahrheit. es war ein teil seine methode, seine klienten mit der wahrheit zu konfrontieren. nur die wahrheit konnte etwas verändern. meist stieß er auf widerstand, aber dann konnte er am kern ansetzen. wenn sie ehrlich zu sich selbst waren, gab es immer eine chance. die erfahrung gab ihm recht.

bei ihr fürchtete er sich vor der wahrheit. die wahrheit, ihre wahrheit über sich selbst, durch ihn bestätigt, würde sie zerschmettern. er konnte ihr das nicht antun. nicht er, an dem sie sich festhielt wie an einem strohhalm. er war nicht mehr als dieser strohhalm, das war ihm klar, aber das war besser als nichts. war es das wirklich? er war ratlos.

ich bin so unendlich müde, sagte sie.

ich sagte ihnen, sie müssen sich schonen. tun sie das auch? sie lachte verächtlich. ich schone mich den ganzen tag, die ganzen tage, die ganzen wochen und monate. sie wissen doch, dass ich keine arbeit habe.

aber sie schonen sich selbst nicht, sagte er. sie hadern mit sich und ihrem leben, das macht sie müde. noch müder.

ich bin alt, erwiderte sie. zu alt für alles. ich fühle mich nutzlos. wissen sie, wie sich das anfühlt, nutzlos zu sein?

er wusste es nicht, es hatte in seinem leben keinen tag gegeben an dem er sich nutzlos gefühlt hatte.

er hasste es, wenn er sich in ein gefühl nicht einfühlen konnte. er war stolz auf seine empathie. er fühlte sich schlecht. er wünschte sie weg. weg aus seiner praxis, aus seinen mittagspausen, aus seinem leben.

ich habe mich bei einer putzkolonne beworben. sie haben eine jüngere genommen.

putzen ist nichts für sie, ich habe es ihnen schon einige male gesagt. sie sind akademikerin, warum versuchen sie es nicht wieder bei einem verlag als lektorin. da spielt das alter doch keine rolle.

sie senkte den blick. ich habe dreißig absagen bekommen, haben sie das vergessen?

er hatte es vergessen, schließlich war sie nicht seine einzige klientin. er konnte sich doch nicht alles merken. verdammt. er spürte wie wut in ihm hoch kroch. er versuchte sich zusammenzureißen.

mein gott, warum ist das so, sagen sie es mir bitte, es kann doch nicht sein, dass alles nichts nützt, was ich versuche.

da war sie wieder, die nutzlosigkeit, die sie ihm hinhielt, so als sei er schuld.

sie weinte leise.

mein gott, ich ertrage das nicht mehr, dachte er, bei der nützt nichts was. plötzlich fühlte er sie, eine unendliche, bleischwere müdigkeit.