Freitag, 22. November 2013

AUS DER PRAXIS - Vom Sinn der Ungerechtigkeit


Ungerechtigkeit ist eine Verletzung der Gerechtigkeit, so definiert ein Eintrag in Wikipedia eines der großen Übel des menschlichen Seins. 

Wer in seinem Leben einmal die Erfahrung einer himmelschreienden Ungerechtigkeit gemacht hat und darunter leiden musste, läuft Gefahr am Sinn des Lebens zu verzweifeln. Das ist das größte Übel, das das Verbrechen der Ungerechtigkeit einem Menschen antun kann. So wird die Ungerechtigkeit zum noch größeren Übel für den, der sie erfahren musste oder muss. Sie raubt ihm den Glauben an die Menschlichkeit, sie reißt ihm den Boden des Vertrauens unter den Füßen weg, sie lässt ihn leiden, über das Erleiden der Ungerechtigkeit hinaus.

Ungerechtigkeit ist zerstörerisch für den Einzelnen und für das ganze System. Und letztlich ist sie auch eine typische Eigenschaft unserer von Menschen gemachten Systeme.
Ungerechtigkeit ist das Unterlassen einer gerechten Handlung und damit ist sie reine Willkür. Ich denke an die Rechtsprechung, die jeder Richter für sich, nach seinem Gutdünken auslegen kann. 

Der Mensch ist es, der Ungerechtigkeit walten lässt. Oder ist es doch Gott? Ist es göttliche Willkür, wenn uns Ungerechtes widerfährt, wenn uns Strafe aufgeladen wird, die das Maß übersteigt, das Maß dessen, in dem wir uns schuldig gemacht haben oder schuldig fühlen, oder wenn wir gänzlich unschuldig sind?

Betrachten wir Hiob, dem Gott unermessliches Lied auferlegt, um einer Wette mit Luzifer willen, um ihn zu prüfen, so glauben wir an eine Willkür des Schöpfers. Damit ergreift uns wieder der Zweifel,  gar die Verzweiflung am Sinn des Ganzen. Sind wir dem Willen unseres Schöpfers unterworfen, sind wir Spielbälle einer höheren Macht, die selbst Mängel hat? Oder sind Willkür und Ungerechtigkeit Gesetze des Lebens? 

Mein Gott, ich halte viel von dir, aber ich möchte nicht an deine Willkür glauben, denn dann habe ich alles verloren, was mich bisher gehalten hat, wenn mich nichts mehr hielt.
„Man hätte das Wort ‚Gerechtigkeit’ nicht gekannt, wenn es diese Dinge nicht geben würde.“ Das galt für den Philosophen Heraklit, und in Anbetracht der Polarität des Lebens, aus der sich Leben für uns Menschen begreifen lässt, gebe ich ihm Recht. Wir brauchen das Eine um es vom Anderen zu unterscheiden. 

Wir machen die Bestimmung der Gerechtigkeit an der Ungerechtigkeit fest.
Aber hilft das weiter, wenn uns Ungerechtigkeit wiederfährt. Hilft die Einsicht in das große einander bedingende Ganze, um die Dinge zu ertragen?

Ich sage ja: Sie hilft, denn alles, was hilft, hat Recht, so wie alles was heilt, Recht hat. Recht zu sein, um uns zu helfen das Unfassbare zu erfassen und weiter zu leben, ohne daran zu zerbrechen. 

Auf die Unausweichlichkeit der Ungerechtigkeit im menschlichen Leben weist auch  Friedrich Nietzsche hin: „Du solltest die notwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen.“ Er sieht die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, so sinnvoll oder sinnlos wie das Leben selbst. „Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am größten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maß der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Größere, Reichere heimlich und kleinlich und unablässig abzubröckeln und in Frage zu stellen ...“ (Nietzsche)

Nur das, dem wir als Mensch einen Sinn zuordnen können, ergibt auch Sinn.

Sinn weiter zu machen. Für einen Menschen, der Ungerechtigkeit als lebensvernichtend erfahren hat ist das schwer. Denn das Leid wird ihm nicht genommen durch bloße Erkenntnis und willentliche Sinngebung. Das Leid ist gefühlt, es ist erfahren, es ist in seine Seele eingebrannt und es lässt ihn nicht los, es ist ein Teil von ihm geworden und nicht mehr rückgängig zu machen.

Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.

Welch eine Illusion! Wir vergessen nichts, nichts von dem, was uns existentiell bedroht hat, das am allerwenigsten. Vergessen wäre Heilung, aber diese Gnade ist uns nicht gegeben und ob der Tod das Vergessen bedeutet – wer weiß das schon?

Wie also umgehen mit der Ungerechtigkeit?

Es gibt nur diesen einen Weg: Ihr einen Sinn zuordnen, wo scheinbar oder tatsächlich kein Sinn ist. Aufhören mit dem Warum fragen, sich nach dem Wozu fragen, anschauen was nach dem Ungerechten das wir erlebt haben, mit uns geschah, auf das Jetzt blicken. Ja, das sind Konstruktionen, aber gesunde, heilende. Es heilt die Wunde, wenn wir uns bewusst machen was das Ungerechte, das uns angetan wurde, in uns bewirkt und verändert hat, es heilt uns anzuschauen, was wir aus dem Leid heraus geschaffen haben, was wir gelernt haben, welche Lektion über die Lektion - das Leben ist ungerecht – hinaus wir begriffen haben.

Dem scheinbar sinnlosen die Macht nehmen und ihm Sinn zuordnen bedeutet: Wir erlangen wieder die Macht über uns  selbst.

Sich der Ungerechtigkeit zu stellen, sie aushalten und dann etwas ändern, wenn wir sie ausgehalten haben, um ein höheres Maß an Gerechtigkeit herzustellen – das ist Größe, das ist das Überwinden der Ohnmacht, in die uns das Ungerechte stürzt.
An der Ungerechtigkeit leiden ist eine Sache, aber wir dürfen uns niemals mit ihr identifizieren, denn dann bestimmt sie unser ganzes Leben.

Indem wir uns von der Identifizierung befreien, befreien wir uns vom Ungerechten und hören auf es nachzuleiden, wir hören auf, es zu einem Teil unsers Lebens zu machen.
Nur so wird erfahrene Ungerechtigkeit zu einem Motor - indem wir sie nicht akzeptieren, sondern sie als Chance zur Entwicklung  nehmen.
So gewinnen wir ihr lebensbejahenden Sinn ab.

Ein herausragendes Beispiel hierfür sind Nelson Mandela, Martin Luther King , Martin Luther und all die anderen großen Geister und mutigen Menschen, die unter der Willkür der Ungerechten gelitten haben und leiden. Sie gehen ungebrochen ihren Weg – ihr Motor ist die himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ohne sie hätten sie niemals den Antrieb verspürt die Dinge ändern zu wollen und es zu tun.
Das macht Sinn, wenn von Sinnhaftigkeit nicht mehr zu reden ist.

„Wir werden uns dieser Ungerechtigkeit nicht beugen - nicht bloß weil sie uns zerstört, sondern auch, weil sie euch ebenso zerstört“, sagte Mahatma Gandhi einmal.




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