Samstag, 2. Juli 2016

Aus der Praxis – Sich dem Schmerz zuwenden

Die erste Wahrheit Buddhas gründet darauf, dass wir in einer Welt leben, in der uns Schmerz begegnet, innen wie außen. Es gibt kein Leben ohne Schmerz. Buddha macht die Unterscheidung zwischen Schmerz und Leid: Schmerz ist etwas, das wir nicht vermeiden können. Leiden ist das, was den Schmerz schlimmer macht, weil wir ihn zu vermeiden versuchen. Dukkha ist das Leiden an unserem Schmerz. Ich kenne Menschen bei denen der Schmerz chronisch geworden ist. Sie leiden wie ein Hund. Aber woran sie wirklich leiden ist das Nicht-wahr-haben-Wollen, der ewige Versuch ihrem Schmerz davonzulaufen.

Schmerz ... Vermeidung ... Abwehr ... etwas anderes denken ... sich etwas vormachen ... positiv denken ... es sich schöner denken ...sich stark denken ...steif werden, starr, eng werden ... eng um den Schmerz herum ... genau das blockiert den Schmerz und genau dadurch wird er größer und schließlich ist da dann das Leid. So in etwa ist das Muster, wenn Menschen vor ihrem Schmerz weg laufen. Oft verlaufen sie sich dabei in Süchte. Sie trinken übermäßig viel Alkohol, nehmen Psychopharmaka, essen zu viel und zu ungesund, konsumieren andere Drogen oder sie klammern sich an Umstände und Beziehungen, die nicht gut für sie sind. Sie behandeln sich selbst nicht gut. In Wahrheit aber klammern sich an die Überzeugung: Wenn ich den Schmerz nicht zulasse, spüre ich ihn nicht. Aber so ist es nicht. Denn jede Vermeidungsstrategie, alles was wir nicht annehmen wollen, führt zu Leiden. "Leiden ist absichtsvoll, aber nicht klug, es bedeutet Lähmung, ist laut vernehmlich und nach außen gekehrt, es will überdauern und braucht deshalb Gesellschft, aber nicht zum Trost, sondern als Zeugen", schreibt der Psychoanalytiker Jorge Bucay. Wer einen Leidenden einmal erlebt hat, weiß, er hat Recht.

Schmerz geht vorrüber, Leiden bleibt.
Wird kein Weg aus dem Leiden heraus gefunden, führt der Weg in die Neurose, zur Depression und/oder in die Sucht. Wer dem Schmerz ausweicht, weicht sich selbst aus. Wer dem Schmerz ein Leben lang davonläuft, verläuft sich im Leben. Sobald wir aber unserem Schmerz nicht mehr davonlaufen, können wir ihn erforschen. Wir können uns ihm liebevoll und achtsam zuwenden, wir brechen die harte Schale von Vermeidung und Abwehr auf und kommen zu einem weichen Kern. Damit legen wir die Maske ab, hinter der wir uns verstecken, vor uns selbst und anderen. Wir hören auf uns und anderen etwas vorzuspielen und uns vor der Wahrheit zu verstecken. Dann können wir unseren Schmerz fühlen. Und wenn wir ihn wirklich fühlen können, können wir ihn lokalisieren - er gibt sich zu erkennen. Er erzählt uns sein "Warum", er führt uns zu seinem Ursprung. Dort angelangt erfahren wir, dass das, was wir so sehr fürchten, eine Botschaft für uns hat. Es liegt an uns sie zu hören um sie zu verstehen. Dann erst lassen wir uns ehrlich mit uns selbst ein.

Der Schmerz, durch den wir bewusst gehen, kann sich wandeln.
Vielleicht gehen wir dann zum ersten Mal durch das Tal der Tränen. Aber mit jeder Träne sehen wir was uns quält, vielleicht lange schon. Wir spüren welche Qualität der Schmerz hat, ob er alt ist oder neu, ob er von außen oder von innen kommt. Manche Menschen glauben, dass das Leben ihnen weh tut, die Umstände, ein Job, der sie quält, ein Chef, der sie triezt, der Partner, der sie nicht versteht, eine Ehe, die nur noch eine Farce ist, ein Verlust, der sie ereilt, Geld, das sie nicht haben, oder das sie verloren haben, ein Traum, der sich partout nicht erfüllt. Ja, das ist wahr, solche Dinge sind schmerzhaft, aber es ist auch wahr, dass dieser Schmerz um all diese Dinge normal ist und sein darf. Er zeigt uns nämlich wo wir etwas verändern könnten um nicht dauerhaft an diesen Dingen zu leiden.

Den Schmerz lokalisieren heißt: Wir gelangen zu seiner Quelle.
Manchmal ist es auch ein sehr alter Schmerz, der Schmerz unserer Kindheit, der zu Leid geworden ist, weil wir usn nie erlaubt haben ihn zu fühlen, weil wir ihn verdrängt haben nach dem Motto: Was vergangen ist, ist vergangen. Das kann ich nicht mehr ändern. Es ist nicht wahr, wir können zwar unsere Vergangenheit nicht ändern, aber wir können sie anders sehen, wenn wir es wollen. Nicht alles war schlecht, auch wenn die Eltern Fehler gemacht haben, auch wenn sie uns nicht auf die rechte Weise geliebt oder uns sogar schlecht behandelt haben, etwas hat uns überleben lassen und etwas ist da, an Gutem im Schlechten, auch wenn es schmerzt - wir sind durch das Vergangene zu dem Menschen geworden, der wir sind und jeder von uns hat etwas Gutes, etwas Wunderbares, eine Gabe, die nur darauf wartet frei gelegt zu werden, befreit zu werden vom Schmerz, der sie blockiert, damit sie sich entfalten kann. Schmerz ist ein Signal, ein wertvolles, ein wichtiges, ein hilfreiches Signal. Verdrängen wir ihn, wird er immer größer und das Leiden nimmt seinen Anfang und kein Ende. 

"Jedes Leben hat sein Maß an Leid. Manchmal bewirkt eben dieses unser Erwachen", sagt Buddha.
Wir müssen nicht warten bis Schmerz zu Leid geworden ist, wenn wir wach genug sind, unseren Schmerz zuzulassen und uns ihm mit liebvoller Aufmerksamkeit zuwenden, immer dann, wenn er sich meldet, auch wenn es weh tut.



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