Montag, 11. Juli 2016

Aus der Praxis – Wir müssen nicht vergeben



Es gab eine Zeit in meinem Leben, da dachte ich, es ist notwendig zu vergeben, um sich besser zu fühlen, um inneren Frieden zu finden. Ich glaubte tief und fest, dass Vergebung ein wesentlicher Teil der Heilung ist, wesentlich um Menschen zu verzeihen, die uns verletzt haben. Allerdings stellte ich fest, dass ich mich, wenn ich meinte vergeben zu müssen oder sogar glaubte, es getan zu haben, kein bisschen besser fühlte. Im Gegenteil es ging mir noch mieser als vorher.

Ich kam zu der Erkenntnis, dass Vergeben zwei Pole hat. Zum einen bedeutet Vergeben unsere Wut und das Bedürfnis nach Rache aufzugeben. Es ist gesund den Gedanken an Rache aufzugeben, denn Rache schaufelt immer zwei Gräber. Sie trifft die oder den, an dem wir uns rächen wollen und sie trifft uns selbst, weil wir uns schuldig machen mit einer unguten Tat. Rache potenziert das Unglück, sie potenziert das Schlechte und sie ist ungut für unseren Seelenfrieden. Auch wenn der Gedanke an Rache uns erst einmal als Entastung dient, wenn wir tief verletzt worden sind, sollten wir es bei den Rachefantasien belassen, um uns selbst  nicht noch mehr Schaden zuzufügen als wir sowieso schon erlitten haben. Es ist gesünder auf Rache zu verzichten, nachdem wir sie gedanklich durchlebt haben.
Der andere Pol der Vergebung ist für mich nicht so leicht zu beantworten.
Ich habe das Gefühl, dass da etwas nicht stimmig ist, wenn wir Menschen, die uns Schlimmes angetan haben, die Absolution erteilen, indem wir ihnen unsere Vergebung schenken. Fast alle spirituellen Konzepte sprechen von der Vergebung als Heilmittel für unsere Seele, aber ist das wirklich wahr?
Wahr ist für mich nur eins: Es ist was es ist.
Und was an Ungutem geschehen ist, ist geschehen und über das Geschehene hinaus hat es Auswirkungen auf den, dem es geschehen ist. Es ist. Es ist eine Erfahrung, die schmerzt und nicht davon weggeht oder besser wird,  indem ich sie denen oder dem, der sie mir angetan hat, vergebe.

Es ist nicht nötig anderen zu vergeben um sich selbst heiler zu fühlen.

In der Praxis begegnen mir immer wieder Menschen, die behaupten, sie hätten ihren Eltern vergeben. Aber wenn wir dann gemeinsam hinschauen, erkennen wir, dass ihr Glaube vergeben zu haben zum einen nicht stimmt und ihnen zum anderen all ihre Minderwertigkeitsgefühle, ihre Trauer, ihren Schmerz und ihr Trauma, nicht nehmen konnte. Im Gegenteil viele sagen, sie fühlten sich sogar noch schlechter als zu der Zeit, in der sie noch Wut empfunden haben.

Vergebung geschieht. Wenn wir vergeben haben erkennen wir es daran, dass uns das Schmerzhafte nicht mehr schmerzt.
Wir fühlen es, wenn uns die Gedanken an das Schmerzhafte nicht mehr begleiten, wenn wir die Geschichte unserer Verletzungen nicht mehr ständig wiederholen müssen und wenn wir sie anderen nicht mehr erzählen müssen, weil sie uns quält und sich ausdrücken will. Vergebung geschieht. Für mich ist sie ein Geschenk Gottes, nichts, das wir beeinflussen können. Wir können sie nicht herbeidenken und schon gar nicht herbeifühlen. Wo sie nicht ist, ist sie nicht und wo sie nicht ist, gehört sie (noch) nicht hin. Und das hat nichts damit zu tun, dass wir nicht in der Liebe sind. Wir sind dann wahrhaftig uns selbst und anderen gegenüber.

Wie soll man den Eltern, die einem kleinen unschuldigen Wesen das Leben zur Hölle gemacht haben oder irgendeinem Menschen, der einem großen Schmerz zugefügt hat, vergeben? Wie soll das gehen? Und warum sollten wir das überhaupt tun oder gar forcieren? Für wen macht das Sinn, außer für den Schuldigen, der meist sowieso durchs Leben geht und wie Pilatus glaubt seine schmutzigen Hände in Unschuld zu waschen? Es macht keinen Sinn.

Vergebung, wenn sie sich nicht von selbst einstellt, ist nichts weiter als eine Form der Verleugnung. 
Ein Verleugnen durch das wir uns selbst vorgaukeln – so schlimm war es doch nicht. Aber es war so schlimm. Ja, es war vielleicht sogar so schlimm, dass uns das Schlimme als Kind emotional in den Boden gerammt hat, so tief, dass wir bis heute aus dem Gefühl des Kleinseins, des wertlos Seins, des schlecht Seins, des nicht liebenswert Seins nicht herausfinden und über Jahre Therapie machen, die nichts verändert und im Grunde nichts weiter bewirkt, als uns einigermaßen stabil zu halten, aber keine Heilung hervorbringt. Wer zu früh oder zu sehr bemüht ist zu vergeben nimmt sich die Fähigkeit aufgestaute Gefühle fließen zu lassen und sie auszudrücken. Und was sich nicht ausdrückt drückt sich ein und zwar nach Innen. Wie können wir unser Wut  ausdrücken, wie unseren Schmerz fließen lassen, wenn wir solch elementaren Gefühlen mit dem  Wollen zu vergeben die Luft abdrücken?
Vergebung funktioniert nicht als Abkürzungsweg um heiler zu werden.
Und: Vergebung funktioniert nicht einseitig.Vergebung bedarf der Verantwortungsübernahme und zwar von beiden Seiten, also auch von der Seite derer oder dessen, denen wir sie geben. Aber was, wenn von der anderen Seite nicht die geringste Bereitschaft dazu vorhanden ist? Sind wir dann so (schein)heilig, dass wir den Schaden, der uns zugefügt wurde auch noch gut heißen, ihn ignorieren, so tun als sei nichts geschehen? Vergebung ist dann angemessen und fällt erfahrungsgemäß um ein Vieles leichter, wenn der andere seinen Teil am Unguten anerkennt.

Aber es gibt Eltern, es gibt Menschen, die dazu absolut nicht bereit sind, die uns sogar weiß machen wollen, wir allein seien schuld, wenn wir uns verletzt fühlen, die uns glauben machen wollen, wir selbst hätten das, was uns widerfahren ist sogar verdient oder angezogen und damit strafen sie unsere Gefühle der Lügen und missachten sie. Diesen Menschen zu vergeben ist Selbstverachtung und hat mit Liebe, vor allem mit Eigenliebe, nichts zu tun. Im Gegenteil wir behandeln uns damit genauso schlecht wie man uns behandelt hat. Wenn wir unsere Gefühle ignorieren, weil wir sie so wie sind nicht haben wollen oder weil wir meinen, wenn wir sie nicht hätten ein besserer Mensch zu sein, nützen wir uns selbst nicht. Wir nützen dem, der sie in uns ausgelöst hat.

Wie soll ein Kind seinem Vater vergeben, der es gedemütigt und geschlagen hat, wie soll ein Kind seiner Mutter vergeben, die ihm gesagt hat: Am Besten, du wärst gar nicht geboren. Wie soll ich als Erwachsener einem Menschen vergeben, der mich hintergeht und meine Gefühle mit Füßen tritt? Es ist nicht notwendig.
Und nein, das bedeutet nicht den Rest des Lebens in Unverzeihlichkeit, Groll und Bitternis zu verbleiben. Es bedeutet erst einmal sich selbst ernst zu nehmen. Zu beobachten wie wir in Wahrheit fühlen und es sein zu lassen ohne dirigierend einzugreifen. So wie in der Meditation – alles darf sein. Ich muss es nicht willentlich verändern, denn das bedeutet Widerstand gegen das, was ist und das bedeutet immer eins: Wir leiden mehr als nötig. Und es bedeutet auch nicht, in ewigem Nachtragen an den anderen emotional gekettet zu bleiben – es bedeutet nichts anderes als dass der innere Frieden, den wir uns durch die großmütige Vergebung schneller erschaffen wollen, genau die Zeit bekommt, die er braucht um sich ohne Druck und ohne Erwartung einzustellen. Loslassen, und das ist für mich der Kern der Vergebung , kann nur dann stattfinden, wenn all die intensiven Gefühle von Wut, Rache, Trauer und Schmerz durchlebt sind und vor allem: Wenn wir die Verantwortung dahin geben wo sie hin gehört.





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